Kunstblut-Kommentar

Tim Mroseks Titus ist eine ironische

Shakespeare-Distanzierung

Es sei das dümmste und uninspirierteste Stück, das je geschrieben wurde, befand der britische Dichter T.S. Eliot. »Titus«, Shakespeares erste Tragödie, wollte wohl etwas von der Popularität der im 16. Jahrhundert beliebten Rachestücke einheimsen: Ein ehrenhafter Feldherr kehrt aus dem Krieg zurück, doch in Rom brodelt der Machtkampf zweier Söhne um den Thron. Intrigen, gesellschaftlicher Zerfall, Demoralisierung, Folter, Vergewaltigung und Menschenfresserei — ein ziemlich brutaler Splattermovie, mit dem Shakespeare zeitlebens nur wenig Erfolg hatte.

 

Auf der Bühne des Orangerie-Theaters schwächt Regisseur Tim Mrosek die Gewaltexzesse ab: Blutvergießen gibt es hier zwar auch, aber nur aus Pappbechern mit Piratenaufdruck. Mrosek, künstlerischer Leiter des freien Theaterlabels c.t.201, führt Shakespeares fiktiven Komplott um Herrschaft und verletzte Männerehren ad absurdum. Er inszeniert ihn zwischen zu Phallus-Symbolen gefalteten Stofftüchern und fügt einen ironischen Kommentar: Die mal flehenden, mal ehrurchtsvollen Kniefälle der Figuren werden von den Protagonisten durchnummeriert, die Beerdigung der 21 im Krieg gestorbenen Söhne Titus’ wie bei einem Fußballspiel kommentiert.

 

Im Zentrum steht nicht Feldherr Titus (Dorothea Förtsch), sondern die von ihm gedemütigte Gotenkönigin Tamora (Lucia Schulz) als Strippenzieherin von Lügen und Verrat. Als frühere Gefangene der Römer ist ihr ein erstaunlicher Aufstieg an der Seite von Kaiser Titus (Georgios Markou) auf den Thron geglückt, nun spielt sie ihre Macht aus. Kaltblütig befiehlt Tamora Gräueltaten, um sich für ihr Leid zu rächen. Auf der Bühne werden diese Taten vor allem durch Querverweise sichtbar: Warum müssen sich Schauspielerinnen eigentlich ständig Vergewaltigungsszenen auf der Bühne gefallen lassen, fragt Lavinia (Melissa Moßmeier) kunstblutwürgend in Richtung ihres Publikums. Asim Odobašić entlarvt als Aaron, Handlanger und heimlicher Geliebter der Kaiserin, die aus heutiger Sicht rassistische Konnotation des Textes: Er ist »schwarz«, weil er böse ist, und böse, weil er »schwarz« ist — die Leib gewordene europäische Angst vor dem Fremden.

 

Mrosek zwingt das Publikum auf diese Weise in einen zwiegespaltenen Voyeurismus: Befriedigung der Schaulust, ja, aber um welchen Preis? Das peinliche Unbehagen dieser Frage wird vor allem spürbar, wenn Odobašić die Anwesenden befragt, ob man nun zu Aarons Blackfacing übergehen wolle: Nur ein paar müde Hände ergriffen Partei dagegen, the rest is silence.

 

»Titus«, nach Shakespeare, 

 

R: Tim Mrosek, Orangerie,
Spieltermine wieder im Herbst