Der Künstler-Direktor im Regen

»Eine Retrospektive« würdigt die genial doppelbödige Kunst von Marcel Broodhaers

Nach dem Besuch einer üppigen Ausstellung hilft manchmal die Frage, welches Bild, welcher Moment, welche Einzelheit im Gedächtnis hängen geblieben ist und dort langsam seine Wirkung entfaltet. In der chronologisch arrangierten, mit zweihundert Arbeiten bestens bestückten Retrospektive des Werks von Marcel Broodthaers (1924–1976) im Düsseldorfer K21 ist es ein zwei-, vielleicht dreiminütiger Film des belgischen Vielseitigkeitskünstlers. Der ratternde Filmprojektor führt endlos — stumm und schwarzweiß — die gleiche Szene vor: Broodthaers sitzt vor einer Gartenmauer, vor ihm ein improvisierter Schreibtisch, Papier. Er beginnt mit Feder und Tinte zu schreiben, bald fallen erste Wassertropfen auf ihn, auf das Geschriebene. Immer heftiger wird der ersichtlich künstliche Regen, der die Schrift augenblicklich löscht und ihn durchnässt. Aber er schreibt stoisch weiter, Leserliches wird es nicht geben.

 

So ähnlich kann es einem mit Broodthaers Werken ergehen. Man steht vor den frühen Objekten mit Muscheln oder Eierschalen, den wortreichen Auseinandersetzungen mit der Fabel von Rabe und Fuchs, den stummen Buchseiten in Reaktion auf Stephane Mallamés typographische Lyrikexperimente oder den vielfältigen Reminiszenzen an seinen Förderer und Anreger René Magitte. Vor den offenen Briefen, den analytischen, wegweisenden Museumsvorführungen, den späten kulissenhaften Raumarrangements. Und wo immer sich bei der Beschäftigung mit diesen Werken eine Art von Begreifen oder Verstehen andeutet, verschwimmt, verschwindet dergleichen rasch wieder wie die Schrift im Regen.

 

Trotzdem ist es ein Vergnügen, dabei zu bleiben und sich in dieser fabelhaften, anspruchsvollen, mit Hauptwerken gespickten Ausstellung aufzuhalten, mehrmals durch die einzelnen Themen und Werkgruppen gewidmeten Kabinette und Räume zu gehen. Verblüffend ist, dass dieses umfang- und folgenreiche Werk — Broodthaers ist u.a. einer der Vordenker dessen, was heute Institutionskritik heißt — in nur zwölf Jahren, zwischen 1964 und 1976 entstand. Zudem sind es Arbeiten eines Quereinsteigers, denn der 1924 bei Brüssel geborene Marcel Broodthaers stand zwar den belgischen Surrealisten nahe, hatte Kontakt zu Magritte, war aber zunächst als Lyriker tätig. Erst 1964 begann er Objekte zu fertigen. Eines — leider nicht im K21 — besteht aus einem Stapel seiner Gedichtbände, die, in einen Gipshaufen versenkt, unleserlich ­wurden. Trotz dieses rabiaten Abschieds von der Lyrik bleiben Sprache und Schrift, auch Literatur Konstanten seiner künstlerischen Arbeit.

 

Bei seiner ersten Ausstellung 1964 setzt Broodthaers einen ironischen Text auf die Einladungskarte, der den Warencharakter der Arbeiten und die ökonomischen Spielregeln der Galerie thematisiert. Die Fragen nach Wert und Bedeutung, den Regeln »hinter« der Kunst, den Bedingungen, unter denen erst etwas zur Kunst werden kann, sind zahlreichen Arbeiten wesentlich. Besonders deutlich wird dies im Zentrum der Ausstellung, das den verschiedenen Varianten seines »Musée d’Art Moderne« gewidmet ist, als dessen Directeur Broodthaers auftritt. Nicht zufällig beginnt er die Arbeit an ihnen im unruhigen, vieles infrage stellenden Jahr 1968. Die aufwändigste Version, eine  analytische Imitation und zugleich raffinierte Parodie eines Museums, konzentriert sich auf das Herrschaftssymboltier Adler und fand in Düsseldorf statt, wo Broodhaers als Teil der belgisch-rheinischen Kunstszene Anfang der 70er Jahre lebte, um dann nach Köln weiterzuziehen.

 

Am Ende ein Rätselraum: »La  Salle blanche«, 1975 entstanden, ein Jahr vor Broodthaers Tod, er starb an seinem 52. Geburtstag in Köln. »Der weiße Saal« ist ein unbetretbarer, leerer, gründerzeitlicher Salon, eine Art Magritte-Raum und eine Imitation, eine Kulisse. Tatsächlich handelt es sich um einen sorgfältigen hölzernen Nachbau des Wohnzimmers des Künstlers, das auch Schauplatz des ersten »Musée d’Art moderne« war. In schöner Schreibschrift sind Wände und Boden mit zahlreichen Worten versehen. Liest man diese isoliert stehenden, mitunter vieldeutigen Begriffe, so erscheinen sie wie eine Liste von Gedächtnisstützen und Stichworten zum zuvor Gesehenen. Oder wie eine unvollständige Selbst- und Kurzbeschreibung des Broodthaers’schen Œuvres: »... Amateur ... Kopie.... Marktwert ... Stil ... Händler  ... Themen ... Schlitzohr ... Bedeutung ... Museum ... Bild ...« . Irgendwo dazwischen steht auch »Film ... Papier ... Wasser ... Regen«.