Der Wahnsinn hat Methode

Eine Anthologie mit Texten von 1964 bis heute und Tom Kummers Autobiografie zeigen die Möglichkeiten der Popliteratur

 

Tom Kummer ist eine Figur, die man als Autor in Anführungszeichen setzen möchte. Vielleicht weil man jenem Kummer, wie er im Buche steht, ebenso wenig über den Weg traut wie dem Typen, der unter diesem Namen für Zeitschriften-Artikel verantwortlich zeichnet und Bücher schreibt. Als Verfasser der Autobiografie »Blow Up« bringt er die Zweifel an seiner Person auf den Punkt: »Tom Kummer, schon der Name klingt erfunden.«

Ein gefallener Engel

Mit seinem Einfallsreichtum sorgt Kummer im Jahr 2000 für Aufsehen: Damals wurde der Schweizer zum schwarzen Schaf in der deutschen Presse­landschaft. Dabei hatte die Karriere des Quereinsteigers steil begonnen: Er zählte zum ehrgeizi­gen Haufen um Markus Peichl, der die Zeitschrift Tempo legendär machte, wechselte zum SZ-Magazin und reiste als Reporter ins Golf­kriegsgebiet. Im Laufe der 90er Jahre spezialisierte er sich auf Star-Interviews. Kummer sprach mit Pamela Anderson oder Nicolas Cage – und zwar auf hohem Niveau. Während andere Journalisten mit drängelnden PR-Managern und maulfaulen Stars fertig werden müssen, schien Kummer über ausgezeichnete Kontakte und ausreichend Zeit zu verfügen, um etwa mit Charles Bronson über dessen Affinität zu Pflanzen zu plaudern. Seine Beiträge galten so lange als extrem originell, bis ein Kollege vom Focus herausfand, dass die Gespräche nicht in der Form stattgefunden haben konnten, in der sie abgedruckt worden waren. Empört verlangten Kummers Auftraggeber Bänder, die die Authentizität des Gesagten beweisen sollten. Da er keine Beweise liefern konnte, weil es keine gab, kam Tom Kummer als Lügner an den Pranger. Man warf ihm Verletzung des Berufsethos vor. Zwei Redakteure, einer davon der heutige Vanity Fair-Chef Ulf Poschardt, mussten ihre Schreibtische beim SZ-Magazin räumen; Kummer sattelte um auf Tennislehrer. Keiner seiner ehemaligen Förderer verteidigte ihn. So schildert er es jedenfalls in »Blow Up«. Egal, ob es um die ruhmreichen Tage geht, oder um sein Exil in Los Angeles, wo der »Borderline-Journalist« mit Frau und Kindern lebt: Es spricht ein gefallener Engel, der sich diese Rolle vor allem selbst zuschreibt. Tom Kummer hört Stimmen aus der Vergangenheit, Aufzeichnungen seines Anrufbeantworters, und balanciert zwischen Bitterkeit und Ironie, Wahn und Wirklichkeit, Öffentlichem und Privatem sowie Mythos und Aufklärung durchs eigene Elend.

Heterogenität der Popliteratur

Tom Kummers Interviews könn­ten gut in einer Reihe stehen mit jenen Texten, die Eckhard Schumacher und Kerstin Gleba für ihre Compilation »Pop seit 1964« ausgesucht haben. Schließlich passt auf Kummers Story die Einführung der beiden Herausgeber wie die Faust aufs Auge: »Pop und Literatur – wann immer die beiden aufeinander treffen, knallt es.« Unter dieser Prämisse ordnen Gleba und Schumacher deutschsprachige Poplite­ratur in drei Zeitabschnitte. Pop seit 1964, 1982 und 1990. Namen wie Rolf Dieter Brinkmann, Peter Handke, Hubert Fichte und Elfriede Jelinek prägen das erste Drittel. Ihre Experimente und Manifeste zeugen von der ersten Nachkriegsrebellion gegen das kulturelle Establishment. Eine subversive Initialzündung. Zwar bleibt die in sich ruhende Hochkultur ein mächtiger Teil der bundesdeutschen Gesellschaft. Aber die aus sich heraus gehende Popkultur stellt eine neue, nicht mehr so leicht zu ignorierende neue Herausforderungen dar.

Mit den 80er Jahren bricht Rainald Goetz über den deutschen Literaturbetrieb herein. Es folgen Autorinnen und Autoren, die größtenteils in Magazinen wie Sounds, Spex, Tempo oder Wiener Schreibweisen erproben, die von neuer Musik, neuen Ideen, neuem Wissen, neuem Mut, neuen Bedingungen sowie dem alten Wunsch nach Unmittelbarkeit handeln. Die unterschiedliche Einstellung einzelner Autoren und kleinerer Gruppen zum Mischungsverhältnis von Theorie und Praxis verleitet die Kritik in den 90er Jahren dann zunehmend dazu, von verschiedenen Schulen der Popliteratur zu sprechen. Die vorliegende Textsammlung betont dagegen bewusst die Heterogenität der angeblichen Lager. Im abschließenden Gespräch spielen sich Suhrkamp-Autor Meinecke und KiWi-Autor Stuckrad-Barre die Bälle zu, wie Tennislehrer »Tomás« Kummer und seine Promi-Schüler in L.A.

Wille zum Protokollieren der Gegenwart

Kerstin Gleba und Eckhard Schumacher wollen in »Pop seit 1964« weniger erklären, was Popliteratur ist, sondern mit den Fundstücken eine Idee von ihrer Wirkung bis heute vermitteln. Der Gegenwartsbezug vieler Texte – von Artmann über Biller bis Röggla – legt nahe, dass trotz aller formalen und inhaltlichen Unterschiede der Wille zum Protokollieren der Gegenwart deren kleinster gemeinsamer Nenner sein könnte. Selbst Tom Kummers Interviews erfüllen diesen Anspruch, legen sie doch Zeugnis ab von den Umständen ihrer Entstehung: Zwar schildert Kummer in »Blow Up« einerseits die Auswirkungen des »Borderline-Journalismus«, beschreibt aber auch die Umstände, die ihn seiner Meinung nach erst möglich machten – indem er das Geschäft mit den Stars, den Erfolgsdruck der Redakteure und die Heuchelei der Kollegen offen legt. Der Wahnsinn hat Methode. Kaum zu glauben, dass in dieser scheinheiligen Welt so wahrhaftige »Popliteratur« erfunden werden konnte. Oder?



Kerstin Gleba, Eckhard Schumacher (Hrsg.): Pop seit 1964, mit Texten von H.C. Artmann, Maxim Biller, Sybille Berg, Dietmar Dath, Diedrich Diederichsen, Olaf Dante Marx, Benjamin v. Stuckrad-Barre u.v.a., Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007, 412 S., 12 €.
Tom Kummer: Blow Up – Die Story meines Lebens, Blumenbar, 224 S., 18 €.