Essen, trinken — aufschreiben

tagnacht erscheint im 30. Jahr. Gerade in Zeiten von Food-Blogs und Bewertungsportalen ist der Gastro-Guide wichtiger denn je

Essen sei Geschmackssache, heißt es. Das stimmt — aber anders als dieser Satz gemeint ist. Ob es schmeckt, ist eben nicht beliebig. Jedenfalls nicht, wenn man sich für gute Küche begeistern kann. Es gibt Kriterien, die einen hohen Grad an Objektivität beanspruchen können. Zunächst sind das die Qualitätsmerkmale von Lebensmitteln — als Grundprodukt und auf dem Teller: Reifegrade bei Obst und Gemüse, Qualitäten bei Fisch und Fleisch, Garpunkte in der Zubereitung, und es gibt zweckmäßige und weniger zweckmäßige Zubereitungsarten. Das führt zu etlichen Möglichkeiten, ein Rezept durch Missachtung küchenphysikalischer Naturgesetze zu ruinieren. 

 

Aber es gibt eben auch Menschen, denen eine Dorade erst richtig schmeckt, wenn sie sehr lange auf dem Grill lag und in dicken, kräftigen Saucen ertränkt wird. Und wer zu Räucherfisch in Olivenöl gern Weißwein trinkt, soll das selbstverständlich tun — wer mag, soll sich auch über ein Mozart-Potpourri von André Rieu freuen. Aber dann vergibt man etwas. Soll man schmecken lernen, so wie man Mozart hören lernen kann? Unbedingt. Als Belohnung eröffnet sich eine neues Universum.

 

Aber es existieren in Deutschland, anders als in kulinarisch versierteren Ländern wie Frankreich und Italien, erhebliche Vorbehalte gegen den Genuss, auch und vor allem jenseits des bürgerlichen Milieus. Essen bedeutet in Deutschland — immer  noch — Sättigung. Verfeinerung haftet der Ruch des Dekadenten an. Wenn eine Bundeskanzlerin an der Bude eine Currywurst im Stehen isst, -fliegen ihr  die Herzen zu. Eine Vorliebe für Sterne-Küche verschwiege sie besser.

 

Wer durch die ersten Ausgaben von tagnacht blättert, stellt fest, wie groß von Beginn an das kulinarische Interesse war, etwa, wenn Redakteure ihre hiesigen Mahlzeiten mit denen eines Aufenthalts in Frankreich, Italien oder — damals polittouristisches Pflichtprogramm — in Südamerika verglichen. Trotz ironischer Grundhaltung, mit der kulinarische und gastronomische Gepflogenheiten kommentiert werden, spürt man Leidenschaft für gutes Essen und Trinken. Doch auch den Verdacht des Dünkels gibt es. Aus heutiger Warte ist es unverständlich, wenn ausgerechnet ein mexikanisches Restaurant als Yuppie-Treff ins Visier gerät. Jetzt feiert das Umland dort Junggesellenabschied. Aber natürlich signalisiert, was und wo man isst, auch immer den Status desjenigen, der isst. Das gilt für klassische Luxusprodukte ebenso wie für Craft Beer, vegetarische Cupcakes und Spare Ribs aus dem Smoker.

 

Überhaupt, die Trends. tagnacht beäugt sie kritisch, aber sehnt sie doch herbei: Denn nach wie vor ist Kölns Gastronomie zwar vielfältig, doch ambitionierte Länderküche ist auf dem Rückzug oder wird als Imbiss in Foodtrucks ausgelagert. Auch vegetarische Restaurants gab es früher mehr, obwohl damals die fleischfreie Ernährung noch als Kuriosum, und garantiert yuppiefrei galt. 

 

Viele Einschnitte — das Ende der Sperrstunde, das Rauchverbot, die Industriefleisch-Skandale seit dem BSE-Schock vor 20 Jahren — haben die kölsche Gastronomie weit weniger verändert, als man damals vermutete. Die Kneipen gehen nicht zugrunde, weil man dem Tischnachbarn keinen Qualm aufs Essen blasen darf. Und Fleisch wird nach wie vor gegessen, nun  halt in Bio-Qualität oder als Hipster-Burger mit Birnen-Gorgonzala-Sößchen. 

 

Der größte Einschnitt in 30 Jahren tagnacht ist das flächendeckende Aufkommen der Systemgastronomie mit ihrem breiten Angebot und schmalem Geschmacksfächer. Andere gastronomischen Mega-Trends — fleischfrei, hochwertig, individuell — scheinen in Köln hingegen nivelliert. Nichtsdestoweniger gibt es etliches zu entdecken. Auch das Regionale: Ja, es gibt gute kölsche Küche. tagnacht weiß, wo. 

 

Nicht trotz, sondern gerade wegen all der Food-Blogs und Internetportale, auf denen Gäste ihre Bewertungen abgeben (oft als Freundschaftsdienst oder Verleumdung), ist tagnacht wichtig. Es gibt kein journalistisches Metier, abgesehen vom Motor-Journalismus, das derart von PR und Gefälligkeits-Beiträgen durchsetzt ist wie die Restaurantkritik. Die journalistische Unabhängigkeit, für die der Stadtrevue-Verlag steht, muss sich daher auch und gerade in einem so großen Gastronomie-Magazin zeigen. Tatsächlich werden ja jedes Jahr aufs Neue all die Restaurants, Kneipen, Cafés, Bars getestet. Und natürlich ist die tagnacht--Redaktion auch privat oft in der Gastronomie unterwegs. Wer für tagnacht arbeitet, hat zwar Spaß an Essen und Trinken, ist neugierig und »für nix fies«, wie der Kölner sagt. Aber mehr noch als an Kulinarik muss man Interesse an Gastronomie haben. Deren Moden hat die Redaktion stets skeptisch beäugt. Als Ende der 90er Jahre auf alles Balsamico gegossen wurde, amüsierte man sich darüber ebenso, wie über den kurzen Trend, in edlen Pommes-buden Schampus zu Currywurst in Blattgold zu reichen. Auch der Hype um Rauke — ab circa 1996 nur noch: Rucola — verfing nicht. Ebenso sah man die Spleens der Hochküche kritisch. Etwa die »Dialoge« von Fisch und Fleisch, und vor allem jene Schäumchen, die auch in Köln geschlagen wurden, als Ferran Adriàs Molekularküche durch die Feuilletons spukte.

 

Müssen denn tagnacht-Redakteure gut kochen können? Gegenfrage: Muss ein Jazz-Kritiker Altsaxofon spielen können wie Charlie Parker? Wichtiger ist, schon etliche Male eine Bouillabaisse, Sushimi oder ein lehrbuchmäßiges Wiener Schnitzel gegessen zu haben, eben um die Qualitäten vergleichen zu können. Nur selten spazieren die Redaktion und ihre Autoren übrigens über die Höhenkämme der Kulinarik. Häufiger tapern sie durch die gastronomischen Talsohlen: Eckkneipen, Studentencafés, Imbisse — und eben jene Lokale, die vorgeben, mehr zu sein, als sie bieten. »Es geht beim Testen nicht um Spaß«, sagte eine Kollegin einmal. Das nur muss die Maßgabe sein: prüfen, ob der Anspruch gehalten wird, und dokumentieren, warum es gelingt oder eben nicht. Persönliche Vorlieben sollen keine Rolle spielen. Das ist die Disziplin, die  Leserinnen und Leser von tagnacht erwarten dürfen und auch können. Fragt man in der Redaktion nach Lieblingsspeisen, sind das sehr einfache Gerichte.

 

Das Gegenteil aber liegt im Trend: Befeuert durch das breite Angebot an Koch-Shows und Kulinarik in Lifestyle-Magazinen, bricht sich oft eine ungebremste Kreativität Bahn. Die Linsensuppe wird einem ja kaum noch ohne Zitronengras serviert und kein Salat ohne Quinoa. Wie gut aber ein Lokal ist, zeigt sich meist am Herkömmlichem: Ein Kartoffelpüree verrät oft alles über ein Restaurant.

 

In der gehobenen Gastronomie wird man seltener handwerklichen Fehlern begegnen, auch die Grundzutaten haben ein qualitatives Niveau. Hier geht es eher um Konzepte: Gelingt das Zusammenspiel von Aromen wirklich? Oder liest es sich nur interessant auf der Karte? Mindestens so wichtig wie Produkte und die Kenntnis ihrer Zubereitung ist es, genau zu schmecken. Die journalistische Herausforderung ist, aufmerksam zu sein, sich nicht blenden zu lassen von Ambiente und Renommee. Analytisch vorgehen, den Geschmack erkunden und schließlich Worte dafür zu finden. Das sind dann oft weniger Wertungen als Beschreibungen. 

 

Ein tagnacht-Redakteur, befragt, was er nach Abschluss der Produktion als erstes esse, meinte einmal: »Zunächst gar nichts, dann ein Brot mit Butter.« Das kann eine unvergleich-liche Delikatesse sein. Und dann ist es: unbeschreiblich.