»Der Mensch ist die Krone der Erschöpfung«

Wie kann das Leben gut für alle sein? Alberto Acosta will diese Frage beantworten. Der Ökonom vertritt die lateinamerikanische Philosophie des »Buen Vivir«, die mit ­indigenen Traditionen den Kapitalismus eindämmen will

Herr Acosta, gegen ein »gutes Leben« hat vermutlich niemand etwas einzuwenden. Was aber meinen Sie eigentlich mit »Buen Vivir«? Hedonismus? Nein, das gute Leben ist etwas ganz anderes. »Buen Vivir« kommt aus dem »Glo­ba­len Süden«, was etwas ganz Neues ist. In der Regel ­kom­men die großen politischen Ideen aus dem Norden: Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus. Sogar das Christentum ist durch Europa verbreitet worden. »Buen Vivir« besteht aus einer Reihe von Ideen, Werten, Erfahrungen und Praktiken, die vor allem bei den indigenen Gemeinschaften im Amazonasbecken schon existieren. Diese Völker wurden lange ausgebeutet und sind auch heute noch marginalisiert. Sie haben verstanden, dass ­die Menschen miteinander und mit der Natur im Gleichgewicht leben müssen.

 

Was sind denn die Inhalte dieser Philosophie? Wie kann das Leben gut für alle sein? Das ist kein Hedonismus, auch nicht »La Dolce Vita« — eine Gruppe der Gesellschaft lebt sehr gut und der Rest nicht. Ein Beispiel dafür ist die »Minga«. Das ist eine Gemeinschaftsarbeit, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, zum Beispiel das Dach der Schule erneuern.  Die Gemeinschaftsmitglieder bringen Werkzeug und Baustoffe mit und reparieren dann unentgeltlich das Dach. Wenn die lokale Verwaltung das unterstützt, könnte man noch mehr erreichen, weil diese über Kapaziäten verfügt, die die Gemeinschaftsarbeit erleichtert. Eine andere Art der Arbeit nennen wir »Randirandi«: Ich arbeite heute für dich, du wirst im Laufe der nächsten Zeit für mich arbeiten — ohne Entgelt. So entwickelt sich eine solidarische Beziehung. Unsere individuelle Persönlichkeit muss respektiert werden, aber wir realisieren uns im Rahmen der Gemeinschaft. Die Afrikaner nennen das »Ubuntu«: Ich bin, weil du bist, und du bist, weil ich bin. Für die Politik bedeutet dies, dass Entscheidungen durch Konsens­findung getroffen werden. Das dauert lange, es ist komp­liziert. Aber jedermann kann etwas dazu sagen, nicht nur die Experten.

 

Welche Rolle spielt die Ökologie dabei? Für die indigenen Völker ist eine Verbundenheit mit der Natur ganz normal. Wenn diese von der »Mutter Erde«, der »Pachamama«, reden, ist das keine Metapher, sondern konkrete, alltäg­liche Wirklichkeit. Das ist manchmal für uns im Westen schwer zu verstehen. Aber wir müssen uns vom Anthro­pozentrismus befreien. Der Mensch ist nicht die Krönung der Schöp­fung, der Mensch ist mittlerweile die Krönung der Erschöp­fung. In meinem Land, in Ecuador, haben wir deshalb die Rechte der Natur formuliert und in der Verfassung verankert.

 

Aber ist das nicht in Ecuador sehr schwierig gewesen, weil ein großer Teil seines Wohlstands auf der Ölförderung basiert? »Buen Vivir« zeigt, dass es auch anders geht. Wir sind so beeinflusst worden, dass wir glauben, dass wir uns ohne diese Rohstoffexporte nicht entwickeln können — seit 500 Jahren. Als die Spanier und Portugiesen später nach Amerika kamen, haben sie uns als Rohstofflieferant in diesen Entwicklungspfad eingeführt. Diese Conquista-Prozes­se sind nicht zuende gegangen, als die Spanier und Portugiesen Amerika verlassen haben. Die jetzigen Re­publiken mit den jetzigen Regierungen — seien es neo­liberale oder progressive — führen sie weiter. Auch der ­Präsident und die Regierung Ecuadors haben die Bedeutung des »Buen Vivir« nicht verstanden. Sie haben sie entleert, vampirisiert, und in ein Machtinstrument verwandelt. Geändert hat sich nur, dass wir heute per Telefon kommunizieren.

 

Viele Linke legen ja eine gewisse Hoffnung in solche neuen Kommunikationstechniken, weil dadurch Konsensfindung im größeren Rahmen möglich wird. Ich halte auch sehr viel von Digitalisierung und Technologie. Aber sie müssen ­Diener des Menschen sein und nicht umgekehrt. In Ecuador gibt es ein ganz interessantes Beispiel: ein kleines Dorf namens Sarayaku, das man nur mit Kanu oder kleinem Flugzeug erreichen kann. Dieses Dorf leistet seit Jahrzehnten Widerstand gegen die Erdölunternehmen und den ecuadorianischen Staat. Und ohne ihre Werte einzubüßen, haben sie moderne Technologie eingeführt. Auf fast jedem Haus gibt es eine Solarzelle, damit es Strom für Glühbirnen oder einen kleinen Kühlschrank gibt. Und sie haben sogar ein Internetzentrum mit solarbetriebenem Computer und sind mit der ganzen Welt verbunden.

 

In Deutschland existieren verschiedene Arten, über den ressourcenintensiven Kapitalismus hinauszudenken. Es gibt die »Degrowth«-Bewegung, auch die postkapitalistischen Ideen von Paul Mason wurden sehr intensiv diskutiert. Kann man die Philosophie des »Buen Vivir« nach Deutschland importieren? Man kann sie nicht ohne weiteres kopieren, importieren oder übertragen. Es sind ganz andere Wirklich­keiten. Aber Gemeinschaftssinn und eine Verbundenheit mit der Natur kann man auch hier bilden. In Deutschland gibt es ein gutes Beispiel: die Energiewende. Die ist zuerst in ökologischen und alternativen Kreisen entstanden. Bei den Hippies, wenn sie so wollen. Deshalb bin ich auch vom »Tag des guten Lebens« so begeistert. Ich denke, dass man sich dort vorstellen kann, wie man Köln noch kon­kreter von unten gestaltet. Auch den Kölner Ernäh­rungs­rat finde ich toll. Natürlich sind das nur kleine Ideen im Verhältnis mit den großen Problemen der Stadt und noch kleiner im Verhältnis zu den Problemen der Bundesrepublik. Aber es gibt in Deutschland eine Menge Ansätze, die in diese Richtung zielen: in Castrop-Rauxel, in Kassel oder in Berlin. Selbst die Bundesregierung hat 2014 einen Bürgerdialog organisiert, um das gute Leben zu ­diskutieren. Für mich waren die Ergebnisse dieses Dialogs sehr mager. Frau Merkel wurde vorher gefragt: »Warum interessieren Sie sich für das gute Leben?« Und sie hat geantwortet: »Damit Deutschland bleibt, wie es war.« Aber es ist genau umgekehrt!

 

Wer soll denn in Deutschland diese Ideen aufgreifen? Die Gewerkschaften? Die verbürgerlichten Grünen? Alle poli­­ti­schen Parteien sollten sich mit diesen Ideen beschäftigen. Aber das ist schwierig, denn sie sind zu stark mit dem Kapi­­talismus verbunden. Die Lösungen werden von unten kom­men, von den Gemeinschaften. Aber wir brauchen auch nationale und globale Lösungen. Wir können nicht warten, bis die Mächtigen ihre Meinung ändern. Man muss von unten Druck ausüben, damit die endlich verstehen, dass es so nicht weitergeht. Darum bin ich sehr froh, dass in Köln solche Initiativen existieren. Das bedeutet, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht bereit sind, tatenlos zuzu­sehen, wie die Welt zugrunde geht.

 

In Köln kann man die Politik noch recht leicht von guten Ideen, etwa beim Radverkehr, überzeugen. Aber oft blockiert dann die Verwaltung, die solche Beschlüsse umset­zen muss. In meinem Land hat man etwas Blödsinniges gemacht. Um das gute Leben zu unterstützen, hat der ­Präsident geglaubt, dass das durch ein Ministerium für »Buen Vivir« in die Praxis umzusetzen ist. Das bürokra­tisiert alles nur. Das gute Leben muss von unten kommen. Wenn der Staat oder die Regierung das dann mittragen, werden die Ergebnisse viel besser sein.

 

Alberto Acosta Espinosa (68) ist ein ecuadorianischer Ökonom und Politiker. Er hat 2007 / 2008 an der Verfassung Ecuadors mitgearbeitet, die zum ersten Mal die Rechte der Natur und das »Buen Vivir« ­verankerte. Zuvor war er ein halbes Jahr Energieminister im ersten Kabinett des sozialdemokratischen Präsidenten Raphael Correa. Acosta hat in Köln Wirtschaftswissenschaften studiert und tourt mit der Band Grupo Sal durch Europa, um seine Ideen zu verbreiten.