Kölns »protestantischer Dom«, erbaut mit

Alternative für Köln? (Teil1)

Reformation, Humanismus, Aufklärung? In Köln lange unbekannt. Während sich Bürger anderer Städte neuen Ideen öffneten, beteten die Kölner lieber die Gebeine der elftausend Jungfrauen an. Böse Zungen behaupten, noch heute sei Köln irgendwie rückständig. Was aber, wenn damals die »Evangelischen« gesiegt hätten? Wäre Köln heute der Streber unter den Städten, modern und wohlhabend?

Oder sähe ganz Köln wie Mülheim aus? Anne Meyer erzählt die evangelische Geschichte Kölns. Melanie Weidemüller stellt einen Luther-Roman vor, der die Welt des ausgehenden Mittelalters erahnen lässt und den Reformator als streitbaren Poeten zeigt. Geschrieben hat den »teutschen Roman« ein Muslim: Feridun Zaimoğlu

Die protestantischen Geister

Normal, das heißt katholisch: Kaum eine Stadt war gegenüber der Reformation so resistent wie Köln. Trotzdem haben Protestanten das »heilige Köln« entscheidend geprägt. Sie brachten den modernen Kapitalismus, bauten den Dom fertig und erfanden das Kirchen­asyl. Eine kurze protestantische Stadtgeschichte

 

Als Martin Luther im Jahr 1512 Köln besucht, ist die Stadt nicht gerade für ihre fortschrittlichen Ideen bekannt. Der Ablasshandel floriert, und in den satirischen »Dunkel­männer­briefen« machen sich anonyme Theologen über die engstirnigen Verhältnisse an den Universitäten — insbesondere in Köln — lustig.  Luther stört sich zu diesem Zeitpunkt nicht daran, ihn treibt vor allem der eigene Seelen­frieden um. Durch intensive Bibel­lektüre und strenge religiöse Praktiken sucht er sich von seiner Angst vor göttlichen Strafen zu befreien.
Fünf Jahre später veröffentlicht Luther seine 95 Thesen, die allerhand ungeheuerliche Ideen bergen: Nicht durch gute Taten, sondern allein durch seinen Glauben könne der Mensch vor Gott bestehen; außerdem habe der Gläubige eine direkte Beziehung mit Gott und bedürfe keiner Vermittlung durch die Kirche. Der Kölner Klerus schäumt. Die Stadt zu betreten, wäre für Luther nunmehr lebens­gefährlich. Als erste kirchliche Instanz in Deutschland spricht sich die theologische Fakultät in Köln gegen Luther aus und lässt seine Schriften im Jahr 1520 neben dem Dom in Flammen aufgehen. Neun Jahre später brennen Menschen: Der lutherisch gesinnte Prediger Adolf Clarenbach und der Student Peter Fliesteden landen als Ketzer auf dem Scheiterhaufen.

 

Fünfhundert Jahre später zeigt Klaus Schmidt einen schmucklosen Stein, der auf dem Melaten-Friedhof an die beiden ermordeten Lutheraner erinnert. Schmidt ist Historiker, Pfarrer im Ruhestand und forscht seit langem zur Geschichte der Protestanten im Rheinland. »In Köln ist man mit religiösen Minderheiten nie zimperlich gewesen«, sagt Schmidt. Die Juden hat der Rat schon 1424 aus der Stadt verjagt. Nun sollen auch die Protestanten keinen Fuß auf den Boden bekommen. Bis ins Jahr 1802 können sie nur »heimliche Gemeinden« bilden. Weil evangelische Gottesdienste innerhalb der Stadtmauern streng verboten sind, lauschen sie Wanderpredigern draußen auf dem Feld. Dort werden sie auch bestattet, zum Beispiel auf dem Friedhof vor dem Weyertor, der heute ans Evangelische Krankenhaus Weyertal grenzt.

 

Protestanten war aber nicht nur das öffentliche Ausüben ihrer Religion verboten. Sie durften auch keine Bürgerrechte erlangen; dies war Katholiken vorbehalten. Dasselbe galt für die Mitgliedschaft in einer Zunft, so dass Protestanten von fast allen traditionellen Gewerben wie dem Handwerk ausgeschlossen waren. Sie durften keine politischen Ämter annehmen, nicht an der Universität arbeiten, durften eine Zeitlang keine Häuser besitzen und mussten Sonder­abgaben zahlen — der Rat dachte sich im Lauf der Jahrhunderte immer wieder etwas Neues aus.

 

Von all diesen Gesetzen machten Rat und Zünfte jedoch gerne Ausnahmen, wenn ihnen der betreffende Protestant nützlich erschien. Dies war häufig der Fall, denn Protestanten waren häufig wohlhabend. Im 16. Jahrhundert flohen viele vermögende Familien vor der Gegenreformation aus den Niederlanden nach Köln und investierten ihr Geld nun hier. Generell war es für protestantische Einwanderer ratsam, ein gewisses Kapital mitzubringen. Als Handwerker oder Kleinhändler konnten sie ja nicht arbeiten, und es erforderte einige Investitionen, um in den Großhandel oder ins außerzünftische Gewerbe einsteigen zu können.
Was den Katholiken eigentlich ihre Privilegien sichern sollte, bewirkte somit manchmal das Gegenteil. Schnell stiegen die Protestanten zur Wirtschaftselite der Stadt auf. Protestantische Unternehmer waren nicht an die mittel­alterliche Wirtschaftsform der Zünfte gebunden und konnten ihre Betriebe nach rein rationalen Kriterien führen. Nach dem Motto, dass Gott demjenigen helfe, der sich selbst hilft, brachte die protestantische Minderheit den modernen Kapitalismus nach Köln.

 

Obwohl sich Köln gegenüber der Reformation so resistent zeigte wie kaum eine andere deutsche Stadt, war der Einfluss der Protestanten immens. Wie es der Stadt wohl ergangen wäre, wenn der Klerus damals geschlossen konvertiert wäre? Wie sähe Köln heute aus?
»Vielleicht wie Mülheim«, sagt Klaus Schmidt, der ­Historiker. Der rechtsrheinische, zum Herzogtum Berg gehörende Ort sei von Köln schon im 16. Jahrhundert als »Gefahr für die katholische Religion« und als »zweites Genf« identifiziert worden. Tatsächlich wohnen hier viele Protestanten, es gilt Religionsfreiheit. 1610 entsteht die erste Gemeinde, eine Kirche wird gebaut, die auch die ­Protestanten von der linken Rheinseite besuchen. Das ist natürlich streng verboten. Die Kölner Ratsprotokolle der Jahre 1610 bis 1614 sind voll von Berichten darüber, wie die Gottesdienstbesucher bei der Rheinüberquerung erwischt und verhaftet werden.

 

1714 siedeln auf einen Schlag zehn Kölner Großkaufleute nach Mülheim über, wo ihnen nicht nur Glaubensfreiheit gewährt, sondern auch Steuern erlassen werden. Diese zehn Unternehmer, unter ihnen der Leinen- und Seidenfabrikant Christoph Andreae, machen Mülheim innerhalb weniger Jahre zum Zentrum der Industrialisierung im Rheinland. In Köln dagegen geht es wirtschaftlich bergab.

 

Einen Großteil dieser Unternehmer und ihrer Nachfolger kann man heute auf Melaten besuchen. Klaus Schmidt führt zum Grab der Familie Vorster, die im Jahr 1858 die Chemische Fabrik Vorster & Grüneberg gründet, die spätere Chemische Fabrik Kalk, auf deren Gelände heute Polizeipräsidium und Köln-Arcaden stehen, und deren giftige Hinterlassenschaften noch heute im Kalkberg vor sich hingammeln. Auch das riesige Areal aus Werkshallen, Fabri­ken und Verwaltungsgebäuden entlang der Deutz-Mülheimer Straße geht auf einen protestantischen Unternehmer zurück: Eugen Langen. Der Sohn eines Zucker­fabrikanten, Ingenieur, Erfinder der Schwebebahn und glühende Kolonialist gründete die Gasmotorenfabrik Deutz, später Klöckner-Humboldt-Deutz, heute Deutz AG.

 

Als Vorster und Langen ihre Fabriken bauten, war der Protestantismus bereits zur Religion der Herrschenden geworden: Seit 1815 gehört die Provinz Rheinland zu Preußen. Konnten die Protestanten schon 1802 unter Napoleon ihren ersten Gottesdienst in Köln feiern, so bekommen sie unter den Preußen weiter Aufwind. Friedrich Wilhelm III. spendet Geld für den Bau des »protestantischen Doms«, der Trinitatiskirche. Dort werden Siege über Dänemark und Frankreich gefeiert, dem Herrscherhaus dient die Kirche als Legitimation und umgekehrt.

 

Als Schmidt auf Melaten die Reihen der verblichenen Unternehmer abschreitet, merkt man ihm ein deutliches Unbehagen an. Ja, alles erfolgreiche Geschäftsmänner und fromme Protestanten. Manche spendeten den Armen und gründeten sogar eine betriebliche Krankenkasse. »Insgesamt taten sie sich allerdings nicht durch ein besonders ausgeprägtes soziales Gewissen hervor«, so Schmidt.

 

Umso mehr hellt sich Schmidts Miene auf, als er nach rechts in einen weniger prominenten Pfad einbiegt. Hier liegt das verwitterte Grab einer für die Kölner Protestanten völlig untypischen Figur. Andreas Gottschalk, 1815 als Sohn eines jüdischen Schächters geboren, wird Arzt und konver­tiert zum Protestantismus — jedoch nicht wie viele andere aus Karrieregründen, sondern weil diese Religion nach seiner Ansicht für die Brüderlichkeit aller Menschen stand.

 

Gottschalk begegnet in seiner Praxis Arbeitern aus den Fabriken protestantischer Unternehmer, er sieht, wie die Arbeit sie krank macht. Am 3. März 1848 führt er fünftausend Arbeiter zum Rathaus, wo er eine Petition mit »Forderungen des Volkes« übergibt, etwa nach allgemeinem Wahlrecht, Pressefreiheit, Schutz der Arbeit und Erziehung aller Kinder auf öffentliche Kosten. Ein Ratsherr springt in Panik aus dem Fenster und bricht sich beide Beine. Nach diesem »Kölner Fenstersturz« wird Gottschalk festgenommen, aber kurz darauf wieder freigelassen. Er gründet den Kölner Arbeiterverein und prangert die ausbeuterische Praxis der Unternehmer an. »Jesus war für Gottschalk vor allem der Heiland der Arbeiter, der für das arme Volk gestanden, gelebt und gelitten hat«, so Schmidt.

 

Schmidt nennt Gottschalk einen Vordenker der Befreiungs­theologie, doch die heutige Evangelische Kirche scheint ihn vergessen zu haben. Anders sieht es mit einer Gruppe von religiösen Politaktivisten aus, die mehr als ein Jahrhundert später von sich reden macht und mit deren Erbe sich Kirchenvertreter heute gerne schmücken. »Ein religiöses Gebet ohne politische Konsequenzen ist eine Heuchelei«, befindet die Theologin Dorothee Sölle und lädt mit einem ökumenischen Arbeitskreis am 1. Oktober 1968 zum »Politischen Nachtgebet« in die Antoniterkirche an der Schildergasse. Mehr als tausend Menschen kommen, die Amtskirche tobt. Der damalige Erzbischof Josef Frings hatte der Gruppe zuvor die Nutzung von St. Peter an der Cäcilienstraße untersagt, wozu ihn der Präses der evangelischen Landeskirche Joachim Beckmann beglückwünscht. Beckmann kann kein entsprechendes Machtwort sprechen, da die evangelischen Kirchen demokratisch organisiert sind und das Presbyterium der Antoniterkirche Dorothee Sölle und ihrer Gruppe weiterhin die Tür offen hält.

 

Dort predigen sie Monat für Monat gegen die griechische Militärdiktatur, den Vietnamkrieg und den Abtreibungsparagraphen, für wirtschaftliche Mitbestimmung und eine »menschenfreundlichere« Stadtplanung. Die Gottesdienste ziehen so viele Menschen an, dass einige am darauf folgenden Abend wiederholt werden. Die Gruppe erhält Morddrohungen, der Präses droht teil­nehmenden Pfarrern mit dem Rauswurf. Von dieser Drohung fühlt sich auch Klaus Schmidt angesprochen, der zur Gruppe um Dorothee Sölle zählte. Staunend erlebt er nun, wie heute — etwa am Vorabend des AfD-Parteitags in Köln — hochrangige Vertreter verschiedener Kirchen von Nächstenliebe und Solidarität sprechen und das ganze als Politisches Nachtgebet bezeichnen. Und überhaupt: Wenn es darum geht, was Köln den Protestanten zu verdanken hat, will er von der Gegenwart lieber nicht sprechen.
Und was soll man davon auch berichten? Dass die Innenstadtgemeinde die Christuskirche am Stadtgarten abreißen und stattdessen zwei wuchtige Gebäuderiegel mit Platz für Zahnarztpraxen und teure Wohnungen errichten ließ? Dass in dem kleinen Betraum, der von der Christuskirche noch übrig geblieben ist, nun Schlager­gottesdienste mit Guildo Horn gefeiert werden?

 

Auch Hans Mörtter, Pfarrer der Lutherkirche in der Südstadt, will lieber von anderen Dingen reden. Zum ­Beispiel vom ersten offenen Kirchenasyl in Deutschland, das 1992 die Kölner Antoniterkirche einer Roma-Familie gewährt. Auch heute gibt es Kirchenasyl in Köln, »da sind wir total über Kreuz mit dem Innenministerium«, so ­Mörtter. Er selbst hat die erste offizielle homosexuelle Trauung in Deutschland vollzogen, 1994 war das. »Wobei wir das schon vorher gemacht haben, das haben wir nur keinem erzählt.« Den Pfarrer kostet das damals beinahe den Job, heute sind Hochzeiten von Schwulen und Lesben in evangelischen Kirchen normal.

 

Ungehorsam sei wesenhaft für den Protestantismus, findet Mörtter. »Was seine Haltung gegenüber Juden, Muslimen und Hexenverfolgung angeht, war Luther ein Arschloch. Aber er war sehr mutig. Er würde für vogelfrei erklärt, das muss man erstmal aushalten.« Mörtter hat ein Netzwerk aus Helfern um sich gesponnen, mit denen er — hier nur eine kleine Auswahl — ein Luxushotel für Obdachlose plant, entführte Flüchtlinge freikauft und gegen Waffen­geschäfte im Viertel kämpft. »Wir kommen aber alle aus unterschiedlichen Ecken. Das läuft nicht unter dem Label ›protestantisch‹.« Für die Landeskirche sind Mörtters Aktio­nen offenbar immer noch protestantisch genug. Sie schickt ihm jedenfalls seit einiger Zeit keine Studenten mehr zum Praktikum.