Zahnarztpraxen, teure Wohnungen und Schlager­gottesdienste mit Guildo Horn: Die Rest-Christuskirche am Stadtgarten, Foto: Dörthe Boxberg

Alternative für Köln? (Teil 2)

Reformation, Humanismus, Aufklärung? In Köln lange unbekannt. Während sich Bürger anderer Städte neuen Ideen öffneten, beteten die Kölner lieber die Gebeine der elftausend Jungfrauen an. Böse Zungen behaupten, noch heute sei Köln irgendwie rückständig. Was aber, wenn damals die »Evangelischen« gesiegt hätten? Wäre Köln heute der Streber unter den Städten, modern und wohlhabend? Oder sähe ganz Köln wie Mülheim aus? Anne Meyer erzählt die evangelische Geschichte Kölns. Melanie Weidemüller stellt einen Luther-Roman vor, der die Welt des ausgehenden Mittelalters erahnen lässt und den Reformator als streitbaren Poeten zeigt. Geschrieben hat den »teutschen Roman« ein Muslim: Feridun Zaimoğlu

Diese wilde, ­saftige Luther-Sprak!

Das Reformationsjubeljahr lehrt uns Demut und Geduld. Luther hochstilisiert zum ­deutschen Nationalhelden, verkleinert zur Witzfigur. Und jetzt noch das: Ein Luther-Roman von Feridun Zaimoğlu. Der legendäre Kanakster hat sich die »Luther-Sprak« ­vorgenommen und zeigt uns Martin Luther fremd, widerständig, streitbar, poetisch

 

7,5 Zentimeter ist das Plastikmännchen groß. In der einen Hand hält es eine Schreibfeder, in der anderen die aufgeschlagene Bibel mit der Inschrift: »Bücher des Alten Testaments. Das neue Testament übersetzt von Doktor Martin Luther.« Die schwarze Kappe ist ziemlich missraten, die Kulleraugen verleihen ihm den Ausdruck eines freund­lichen Dreijährigen. 7 Euro 99 kostet der Reformator fürs Kinderzimmer. Der Playmobil-Luther ist ein Bestseller: 750.000 verkaufte Exemplare, mehr als zuvor irgendeine andere Playmobil-Figur. Mehr als Darth Vader. Das eigentlich befremdliche aber ist, dass die Evangelische Kirche Deutschland ernsthaft auf die Idee kam, mit diesem Plastik­zwerg offiziell für das Reformationsjubiläum zu werben.

 

Es ist Luther-Jahr, da müssen wir durch. Der legendäre Anschlag der 95 Thesen an die Wittenberger Schlosskirche im Jahr 1517 jährt sich erst am 31. Oktober, doch längst sind wir umzingelt. Großereignisse vom Format »500 Jahre Reformation« folgen einer Kampagnen-Dynamik. Lange vor dem eigentlichen Termin wird das kommende Super­event so lange hochstilisiert, bis jeder weiß, dass da etwas megabedeutendes auf uns zurollt, aber keiner mehr fragt, worum es eigentlich geht. Was wissen wir wirklich über Martin Luther? Was geht uns dieser rebellische Mönch, der es mit dem mächtigen Papst, mit Gott und dem Teufel aufnahm, heute noch an?

 

Einer, der sich Luther unbefangen auf eigene Faust angenähert hat, ist der türkischstämmige Schriftsteller Feridun Zaimoğlu. Im Frühjahr hat er beim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch seinen neuen Roman veröffentlicht, sein Titel lautet »Evangelio. Ein Luther Roman«. Erwartungen hat Zaimoğlu immer durchkreuzt. Als 1995 sein legendäres Buch »Kanak Sprak« erschien, war er 31, bezeichnete sich selbst als »educated Kanakster« und gewährte mit seinen halbfiktiven Interview-Rhapsodien Einblick in das Lebens­gefühl junger Deutschtürken. Vor allem aber hatte der Autor den Migrantenkindern ihre erfindungsreiche, aggressive Sprache abgelauscht.

 

Heute, zwanzig Jahre, rund zehn Romane und noch mehr Literaturpreise später, ist Zaimoğlu ein Star unter den deutschen Gegenwartsautoren. Ein Sprachvirtuose, der sich mit jedem Buch neu erfindet. Mit »Evangelio« hat er sich jetzt an das Allerheiligste — oder muss man sagen das verteufelt Schwierigste? — gewagt, nämlich den vulgären, glühenden, wort- und bildgewaltigen Martin-Luther-Sound. Man beginnt zu lesen, trifft den verbannten Ketzer über Schriften brütend in seiner nächtlichen Klause auf der Wartburg, und es klingt so: »Bücher mit Schweinsledereinband, schwere Deckel hüten die schwefligen Worte, die Meister Martinus durch List dem alten Feind abgetrotzt. Man muss ins erste Saufen Gottes Namen sprechen, und also bewegt er stumm die ­Lippen und trinkt drei Schlucke. Im Tran der blakenden Tranlampe funkeln seine Augen. Er stellt die Füße auf den Walwirbel. Er legt das Papier vor sich hin. Kratzt mit der Feder Runen, als würd der Dämon der Macht ihm Zauberziffern in den Geist bluten.«

 

Ich bekenne: Es ist anstrengend. Nach drei Seiten fluchte ich, nach zehn zweifelte ich. Nach fünfzig war ich süchtig nach dieser Zaimoğluschen Kunstsprache, in der längst vergessene deutsche Wörter, Neologismen, Rhythmus und Wortwitz sich unerhört verbünden.
Wie weit ist die Strecke von Kanak-Sprak bis zur Luther­bibel? 500 Jahre weit, und doch kurz. Feridun Zaimoğlu hat sich seine Außenseiterfiguren immer über ihre Sprache anverwandelt, und der abtrünnige Mönch Martin Luther ist eben auch ein Sprachgigant. Als Schriftsteller, sagt Zaimoğlu, habe er zwei Dinge herausstellen wollen: Luthers Wortgewalt und den »Glutkern des Glaubens«, dem die gelehrte Theologie nicht beikommt. Die letzten zwei Jahre hat er sich bis zur Erschöpfung an Luther abgearbeitet. Hat sich in Texte gewühlt, endlos recherchiert, ist nach Eisenach, Wittenberg und auf die Wartburg gereist. Immer im Gepäck: Die Heilige Schrift.

 

Mit zehn oder elf Jahren, berichtet Zaimoğlu verblüfften Journalisten, habe er die Lutherbibel erstmals gelesen. Das Verstehen kam später, die Faszination blieb, auch oder gerade weil das sehr deutsche Phänomen Luther schwer zu packen ist. »Ich bin darauf gestoßen, dass man Luther entweder heiligt — oder harsch kritisiert.« Ansonsten begegne er einem meistens weichgespült: »Der Spieß­bürger von heute möchte Luther im Grunde als Anek­doten­­onkel. Er kauft Bücher wie ›Kochen mit Luther‹, und dann bereitet er Bratheringe mit Erbsenpüree zu und kichert. Die anderen fühlen sich toll als kritische Forscher, aber sie verkennen, wie mutig Luther war — ich meine nicht den späten Luther, der war ein Mann der Fürsten, der sich der Obrigkeit angedient hat. Aber er fing großartig an.«

 

Zaimoğlu muss derzeit viele Interviews geben, sie sind erfrischend. Goethe und Thomas Mann? »Parfümierte Literatur.« Luther hingegen sei saftig und kräftig: »Herr­liche Sprachkraft!« Die deutschen Wörter seien für ihn nicht nur Werkzeuge, »sondern sie sind Fleisch und Knochen und Blut«. Hier spricht der Schriftsteller, der Kollege gewissermaßen, der sich für die Bibelübersetzung begeistern kann. »Luther wollte das heilige Buch aufschlagen für das einfache Volk, und er wollte all die Blasphemie, die die Pfaffen daraufgelegt haben, wegstreichen. Und das, obwohl er die Hälfte seines Lebens gefangen war in der Theologie. Die Theologie ist Nachgeburt, eine Nachbesprechung des Heils. Was gilt, ist die Heiligkeit der ersten Stunde, und Luther fand die rechten Worte, um sie aufzuschreiben. Das finde ich an ihm großartig.«

 

Die Bibel fürs gemeine Volk — um diese Revolution zu verstehen, muss man sich die historische Situation vor Augen führen. Als Luther das Evangelium aus der Originalsprache ins Deutsche übertrug, gebrauchte er einen Mix aus regionalen Dialekten, eine allgemeine deutsche Hochsprache gab es im 16. Jahrhundert nicht. Luthers Gegner waren entsetzt. Die Heilige Schrift, so die geltende Lehrmeinung, muss durch Kirchengelehrte vermittelt werden; dass das Volk kein Hebräisch und Latein verstand, kam der Papstkirche zupass. Luthers Maxime Sola Scriptura (Allein durch die Schrift) hingegen — einer der Grundsätze der Reformation — sah die Heilsbotschaft in der Bibel selber aufgehoben. Anders gesagt: Es ging um Deutungshoheit, Machtverhältnisse.

 

Feridun Zaimoğlu sympathisierte noch nie mit den Herrschenden. »Auch der Heiland kam von ganz unten. Er hat Aramäisch gesprochen, und Aramäisch ist das, was heute bei uns in Deutschland Prollsprache ist. Jesus kam aus der Provinz, aus dem Kaff — daran sollten all die kultivierten Theologen denken, die sich auf ihn berufen.«

 

Zaimoğlus »Evangelio« ist ein Sprachereignis, aber Inhalt gibt es natürlich auch. Der Roman konzentriert sich auf das Jahr 1521, die knappe äußere Handlung basiert auf historischen Fakten: Luther, auf dem Wormser Reichstag in Acht und Bann geschlagen, hält sich unter dem Schutz des sächsischen Kurfürsten als Junker getarnt auf der Wartburg auf. Eine Art Schutzhaft, die ihn in seine tiefste Glaubenskrise stürzt und in zehn Wochen sein größtes Werk schaffen lässt, die Bibelübersetzung. Von hier aus schickt der Autor ihn zu einigen Ausflügen, auf die Jagd, zu einer Juden-Hinrichtung, einer Hexenverbrennung, schließlich nach Wittenberg, wo er sich heimlich mit Melanchthon trifft.

 

Als fiktiven Ich-Erzähler schickt der Autor ausgerechnet einen therapieresistenten Katholiken ins Feld — den ehemaligen Landsknecht Burkhard, der auf Anordnung des Burgherrn als Luthers Bodyguard abgestellt ist. Burkhard ist ein Haudegen, der im Krieg gehungert und gemordet hat und gern ins Bordell geht, außen hart, im Grunde seines Herzens gutmütig.
»Ich wünsch mir keine Geistesgaben. Bin ein Kerl im Harnisch, ohne Wille, ohne Werk. Ich möchte voller Schalkheit sein und beim Hürlein liegen. Ich möchte nicht, dass mir ein Pfaffenschrat auf den Achseln sitzt. Ich häng mich an ihn, er hängt sich an mich. In der Feindesnot sind wir verbrüdert, ich sehn mich nach Zertrennung.«

 

Im Ich-Erzähler findet Luther einen Kontrahenten, der als Romanfigur nicht minder interessant ist. Ungebildet, gleichwohl auffällig vernunftbegabt, wenn er sich Gedanken über seinen Schützling macht. »Der Mönch tötet die Lust des freien frohen Weibes
und der Dirn, die er schimpft, als wär er Ketzerbrenner. Er macht sich die Schrift nutzbar und schärft sie wie eine Schneide wider die Empörer. Wer sich ihm widersetzt, ist der Feind. Heut sind’s Papst und Ablasskrämer. Morgen, wenn ihm die Macht zuwächst, zeigt er auf andere, die ihm nicht zu Willen sind. Er will gebieten. Ein arger Papst ist der Luther … «
Das sitzt. Aber Burkhards Kontrahent hält dagegen: Eingestreut sind eine Reihe fiktiver Briefe Luthers, in denen er sein Ringen mit Gott und Teufel, den irdischen Mächten der römisch-katholischen Kirche und dem eigenen Gewissen zu Papier bringt und sich seinem Glaubensbruder Melanchthon anvertraut. Mal verzweifelt bis zum Wahnsinn, trostsuchend, mal trotzig aufbegehrend. Luther wettert ungehemmt, gegen den verhassten Papst und das verkommene »Rombabylon«, gegen die Türken und die Juden. »Der Teufelsjud sauft das Blut Jesu alle Tag. Man schlage ihn heraus aus unserer Mitte, dass wir nicht an seinem Eiter verderben. (...) Blut bannt, ihnen die Sünde, uns das Heil.«

 

Zaimoğlus »teutscher Roman« erkundet die hellsten und finstersten Regionen einer menschlichen Seele, ist eine mit Furor geführte Gottesmeditation, ein sinnlich erzähltes Sittengemälde. Man schmeckt und ahnt etwas von dieser Welt des ausgehenden Mittelalters, dem Nebeneinander von Glauben, Aberglauben und Vernunft, Kirchen- und Fürstenherrschaft, rechtlosen Knechten und Bauern. Wenige Jahre später folgt der große Bauernkrieg, die Aufständischen hungerten und rütteln an der sozialen Herrschaftsordnung.
Vor diesem Hintergrund zeichnet Zaimoğlu seinen Martin Luther als ambivalente Figur: Er zollt ihm Respekt, kämpft mit ihm, seziert ihn und legt dabei jene Spur frei, die den Nationalhelden verdüstert. Sie beginnt mit strenger religiöser Überzeugung und endet in religiösem Fanatismus. Luthers Wut gegen Andersgläubige, Schlaffgläubige, Ungläubige, gegen die allgemeine Verlotterung und gottlose Dirnen zielte auf ein besseres Christentum, eine neue Kirche. Luther kämpfte mit Worten, seine Gegner wollten den Ketzer brennen sehen, beide beriefen sich auf die wahre Religion. Das Wort »Gotteskrieger« hat im Jahr 2017, in dem das große Jubiläum gefeiert wird, einen besonderen Klang.

 

Natürlich lautet derzeit die meistgestellte Frage an den »netten muslimischen Jungen« (Dennis Scheck) und Bestsellerautor: »Herr Zaimoğlu, warum haben Sie einen Luther-Roman geschrieben?« Lächeln, dann: »Ich hab ja immer viel von der Herz- und Geistverrücktheit gehalten. Bei jedem Buch.« Die Gretchenfrage — glauben Sie an Gott? Ist er christlich oder muslimisch? — beantwortet er auch. Manchmal so: »Ich liebe meine jüdischen Propheten, ich liebe meinen Heiland Jesus, und ich liebe meinen Propheten Mohammed. Ich liebe den allmächtigen Gott. Ich liebe die sanften Menschen, und ich hasse all diese Gewaltverbrecher, die im Namen der Religion köpfen, schlagen oder arme Menschen dazu verdonnern, vor Pfaffen niederzuknien und ihre Ringe zu küssen. Es gibt nur eine einzige Majestät, und das ist Gott.«