Neue Stimmen

 

 

Sie sind geflohen und leben nun in Köln.

Sie erzählen von Liebe, Politik und manchmal auch darüber, was beides mit ihrer Flucht nach Deutschland zu tun hat. Assal Abedi, Fady Jomar und Jabbar Abdullah schreiben Texte. Gemeinsam mit dem inter­kulturellen Autorencafé fremdwOrte veröffentlichen wir sie

Assal Abedi

Worte

 

Ich sehne mich nach Worten.

Nach all dem Unsichtbaren, worin dein Sein herumgeistert.

 

Ich kann dich sehen.

Sie sagten, ich muss mich anpassen, damit sie mich mögen.

Doch je mehr ich mich anpasse, desto mehr verwischt die Realität deines Seins

und ich weiß nicht mehr, ob ich dich überhaupt jemals gesehen habe.

Aber ich weiß:

Ich war verliebt und bin es nicht mehr.

Nun bin ich tot, nur eine Materie, die glücklich sein sollte

die positiv sein sollte.

So heißt es immer.

Ich soll eine positive Funktion in mir installieren.

Ich war verliebt 

und alle sagten, wegen Dopamin

Serotonin, Neurotrophin und Oxytocin.

Nein! Ich war verliebt

 

und nun weiß ich, warum ich das war.

Es war, weil ich eine Seele war.

Ich war frei und konnte sehen so klar

alles, was für Augen unsichtbar war

und darum suchte ich nach Worten.

All den Worten, die deine Schönheit durch den Augenblick in der Ewigkeit horten

und ich vergaß die gesamte Welt.

Doch das sollte nicht so sein.

Ich sollte eine von ihnen sein

um zu funktionieren.

Nun aber bin ich tot.

Nur ein funktionales Objekt, welches das Glück nicht zu installieren vermag.

Aber manchmal erscheinst du wieder im Zwinkern eines Lichtscheins

und ich bin wieder eine Seele.

 

Ich sehne mich nach Worten.

Worte, die deine Schönheit in sich versunken horten.

 

Assal Abedi stammt aus dem Iran und wurde 1980 in den Ersten Golfkrieg hineingeboren. Sieben Jahre später floh sie nach einem Bombenangriff mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie ist in Köln aufgewachsen und hat an der hiesigen Universität Chemie auf Diplom studiert. Assal Abedi verfasst Lyrik wie Prosa auf Deutsch und ist Mitglied der Kölner Autorenwerkstatt.

 

 

 

Fady Jomar

Verlieb dich nicht in einen Flüchtling

 

Seine Taschen sind vollgepackt mit den Schlüsseln der Wohnstätten seiner Reise. Es ist kein Platz darin für Leckereien oder Ringe. Seine Gesichtszüge wirst du erst entziffern können, wenn du das Kartenlesen beherrschst. Wenn du glaubst, er lache, ist es doch nur das Echo der Granaten. Sein Schweigen, das Weisheit verströmt, ist der Horror der Alarmbereitschaft, in der er sich befand, als die Kugel des Scharfschützen ihr Ziel verfehlt hatte. Seine argwöhnische Gedankenlosigkeit ist die nächste Kugel des Scharfschützen, die ihn am Auge verletzte, als er einem Laib Brot nachjagte.

 

Sein Stottern, das dich zum Lachen bringt, wenn er versucht, dir etwas zu sagen, sind die Wiegenlieder, die Großmütter in seinem Land sangen und die er in- und -auswendig kennt. Er trägt sie tief in seinem Herzen. Oder zumindest in dem, was von seinem Herzen geblieben ist. Seine dunkle Haut, die immer blasser wird, verzehrt sich nach der Sonne, deren zärtliche Berührung die unzähligen Narben, die er nun trägt, nicht mehr zu heilen vermag.

 

Vielleicht verletzen dich die Narben. Vielleicht tötet es ihn, dir erzählen zu müssen, wie sie ihn verwundet haben. Sein verdunkeltes Auge ist pures Verlöschen. Keine Nacht, kein Verlangen, kein Warten. Nur pures Verlöschen. Die Geschichten, die er über sein Land und dessen Helden erzählt, sind seine allnächtlichen Albträume. Glaubst du, einer, der dem Krieg entkam, ist der richtige Mann für die Frage: »Schön geträumt?«

 

Sehnsucht wirst du in seinem Gesicht nur in dem Moment erkennen, wenn er die Aufenthaltserlaubnis erhält. Es mag dir unverständlich erscheinen, dieses manische Erwarten eines Papiers. Wie könntest du auch begreifen, dass es den ganzen Unterschied zwischen einem Ding und einem Menschen bedeutet? Und im Übrigen: Was auch immer du tust, es wird dir nicht gelingen, die Enttäuschung auf seinem Gesicht zu vertreiben, wenn er erfährt, dass seine Aufenthaltserlaubnis auf ein Jahr beschränkt ist.

 

Verlieb dich nicht in einen Flüchtling. Es wird ihm nicht gelingen, die Grenzen zwischen euch zu überwinden, ganz gleich wie offen sie sind. Er hat bereits so viele Grenzen überquert, dass es für Generationen genügt. Auf seiner Reise wich er Polizisten und Kontrollbeamten aus, bis er seine Fähigkeit verlor, einem Moment der Leidenschaft auszuweichen. Wie könnte ein Mann, dem es an Zurückhaltung mangelt, dich je erreichen?

 

Er umarmte Bäume, die doch keine Arme hatten, um seine Umarmung zu erwidern. Er gewöhnte sich an die Einsamkeit, bis er begann, seine Mutter zu fürchten. Hast du schon mal einen Menschen ohne Arme umarmt? Ohne Atem, der sich in dem Moment der Umarmung erhebt? Er kennt die Erde. Nicht wie sie die Bauern bei der Aussaat kennen, über die du gelesen hast, und nicht wie die Kinder der Armen, die du in den Fernsehdokus gesehen hast. Er kennt sie so, wie es in den Schöpfungsgeschichten erzählt wird: Er hat erfahren, dass die Erde seine Substanz ist. Sie ruht in ihm, versuchte ihn zu verführen, begann ihm Geist einzuhauchen. Wäre da nicht die Sorge, er könne werden, was er ist: ein Mensch auf der Schmuggelroute.

 

Verlieb dich nicht in einen Flüchtling. Es gibt keinen Raum für dich, keinen Platz für Geschenke in seinem kleinen Koffer. Darin befinden sich schon Splitter von Granaten, amputierte Gliedmaßen und Überreste von Straßen. Auch Schulen, von denen nur der Bordstein geblieben ist. Mütter, die in den Jahren des Wartens auf ihren Sohn keinen Schlaf mehr finden, weil sie nicht wissen, in welcher Hölle er gelandet ist. Bilder von Kindern aus seinem Viertel, die die Nachrichten in deinem Land nicht zeigen, weil sie »außerhalb des in den Medien Zeigbaren« liegen. Wie soll er, wenn er Heimweh empfindet, die Kinder seines Viertels betrachten, wenn nicht auf den Bildern, die mit ihm geflüchtet sind, auch wenn sie nicht gezeigt werden dürfen? Wohin mit deiner Liebe? Kannst du dir deine Liebe nach einem Jahr mit diesen Gefühlen vorstellen?

 

Verlieb dich nicht in einen Flüchtling. Oder verlieb dich in ihn, wenn du in einem Haus des Wartens leben willst: ein Morgen mit Nachrichtensendungen. Plötzliches Weinen ohne Grund. Ein verrückter Tanz nach einem Sieg, dessen Bedeutung du nicht verstehen wirst. Ein Sieg für ein paar Männer, zwei Gewehre, in einer kleinen Gasse, der Spielstätte seiner Kindheit. Verlieb dich in ihn, wenn du die Ortszeiten der Städte der Welt kennen lernen willst. Er prägt sie sich ein, um zu wissen, ob seine über die ganze Welt verstreuten Brüder und Freunde gerade aufgewacht sind oder ob sich bei ihnen der Tag schon dem Abend zuneigt.

 

Wenn du ihn liebst, lässt du seine Gesichtszüge vielleicht wieder auf seinem von Karten verhüllten Gesicht erscheinen. Oder du findest einen Rest Erde von seiner Reise, in der neue Träume sprießen können. Träume, die weit über die Rettung aus der Heimat  hinausgehen. Träume, die eine Vorstellung des Möglichen und des Unmöglichen zurückholen.

 

Wenn es passiert und du dich in einen Flüchtling verliebst, wirst du erfahren, dass es Dinge gibt, die wie Luft sind: Heimat, Zugehörigkeit, Sicherheit, Träume. Wir nehmen sie als gegeben, als verfügbar hin, bis wir ertrinken oder flüchten. Nur die Ertrunkenen kennen den Schmerz über den Verlust der Luft. Nur die Flüchtlinge und du, falls du dich in einen von ihnen verliebst, kennen den Schmerz über den Verlust der Heimat.

 

Aus dem Arabischen übersetzt von Sophie Schabarum

 

 

Fady Jomar, geboren 1979 in Damaskus / Syrien, lebt aktuell in der Nähe von Köln. Er hat Betriebswirtschaftslehre in Damaskus studiert und ist seither als Schriftsteller, Lyriker, Liedtexter und Journalist tätig. Die Oper »Kalīla wa Dimna«, für die er das Libretto verfasst hat, wurde 2016 auf dem Musikfestival in Aix-en-Provence uraufgeführt. Für die in Deutschland erscheinende Zeitung Abwab (arab.: »Türen«) betreut er redaktionell die arabischsprachige Webausgabe auf abwab.eu. Dort erschien auch zuvor der hier abgedruckte Text.

 

 

 

Jabbar Abdullah 

Die Tränen Aleppos (Auszug)

 

Am nächsten Tag verließen meine Freundinnen Aleppo wieder Richtung Raqqa. Ich habe sie zur Bushaltestelle begleitet. Nachdem sie gefahren waren, musste ich sofort zur Uni gehen, denn dort warteten bereits zwei Kommilitoninnen in der geisteswissenschaftlichen Fakultät auf mich. Das Café liegt im Erdgeschoss des Gebäudes. Es ist sehr groß und viele Studenten sitzen gern dort, es ist immer gut besucht. In jeder Fakultät gibt es ein Café, aber weil dieses so gemütlich ist, kommen die Studenten auch aus den anderen Fakultäten hierher. Beim Eintreten fühlte ich mich wie in einer anderen Welt. Viele Geräusche mischten sich, trafen aufeinander und ergaben eine besondere Kulisse aus Gesprächsfetzen. Man hörte Lachen und Studenten, die sich auf Prüfungen vorbereiteten. Ein Kaffee kam, ein Kaffee ging. Menschen liefen zwischen den Tischen umher und die Augen suchten die Umgebung nach bekannten Gesichtern ab. Dort habe ich die Kommilitonen getroffen. Wir tranken Tee und Kaffee und gingen dann in den großen Garten, der zwischen den Fakultäten liegt. Dieser Garten war neu und schön. Überall gab es Blumen und Grünflächen und Springbrunnen. Alle paar Schritte sah man Studentinnen und Studenten, Paare, die zusammensaßen und Küsse tauschten. Andere saßen Rücken an Rücken, sprachen miteinander und genossen die Sonne. Wir haben uns in der Mitte auf den Rasen gesetzt, es war gegen zwölf Uhr mittags. Ein paar Minuten später hörten wir von Weitem laute Rufe. Es waren Parolen gegen das Regime, wie: »Das Assad-Regime: Kindermörder.« Diese Gruppe bestand aus etwa zehn Studenten. Sie saßen in verschiedenen kleinen Gruppen zusammen, einige auf Bänken unter den Bäumen, andere auf einer kleinen Mauer, die zwei Gebäude verband, eine Gruppe saß einfach im Gras auf der Wiese. Laute Rufe kamen aus unterschiedlichen Richtungen. Das Licht der Freiheit leuchtete über allem. Die Geräusche der Bewegung, mit der die Studenten sich versammelt hatten, waren für mich wie ein Märchen, das ich immer sehr geliebt habe. Sie bildeten eine Einheit, die Rufe für die Freiheit wurden mit jedem Moment lauter. Die grüne Fahne der syrischen Freiheit wehte über ihnen. Immer mehr Studenten kamen zusammen.

 

Wir beobachteten dieses Ereignis aus der Ferne. Zwei Studenten trugen jeweils einen dritten auf den Schultern, der für die Freiheit sang, während alle anderen diese schönen Gesänge wiederholten. Ein paar Minuten später hatte sich diese kleine, spontane Demonstration in Richtung der Pädagogischen Uni bewegt. Wie schön war dieser Moment! Begeisterung und Rufe für den Humanismus. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass die Menschen hier ihre Freiheit erhalten würden, trotz des Lebens unter der Diktatur. Die Fesseln an den Körpern der Bevölkerung würden nicht lange bleiben können, wenn es junge Leute gibt, die für die Freiheit kämpfen. Intuitiv stand ich auf; mein Gefühl zwang mich dazu. Meine Kommilitoninnen sahen mich nachdrücklich an und sagten: »Bitte geh nicht!« Doch ich musste. Um ein Teil dieser Demo zu werden, von der ich immer geträumt hatte. Nur vier Schritte, nicht einen einzigen mehr, bewegte ich mich. Eine von ihnen sagte nochmals sehr eindringlich: »Bitte, geh nicht! Sei nicht leichtsinnig! Sie kommen gleich. Sie werden kommen und alle Leute mit ins Gefängnis nehmen!« Ich entgegnete: »Keine Sorge! Sobald ich sie sehe, haue ich ab. Sie kriegen mich nicht. Geht zurück ins Café und wartet dort auf mich. Ich komme gleich.« »Nein, wir bleiben besser hier und schauen, was passiert.« Zehn Schritte weiter riefen sie nochmal: »Bitte guck nach rechts, Jabbar, und guck mal nach links, dort an der Ecke. Geh‘ nicht weiter. Sie sind schon da!« Ich schaute nach rechts und erschrak zutiefst. Mehr als hundert Soldaten in voller Montur und mit all ihren Waffen liefen Richtung Demo, gefolgt von fünf großen Mannschaftswagen. Links stand eine Gruppe von Geheimdienstlern in Zivil. Man wusste nicht, woher sie so schnell gekommen waren und wie sie in dieser kurzen Zeit die Demo erreicht haben konnten. Sicherlich hatten sie sich schon an der Universität in Bereitschaft gestellt. Ich konnte das kaum fassen: Hunderte von Soldaten standen meinem Traum, an einer Demonstration für die Freiheit teilzunehmen, entgegen. Hunderte Soldaten beendeten meine Bewegung zu den Helden, nachdem sie gerade erst begonnen hatte. Die Soldaten waren noch im Anmarsch, doch die Studenten hatten keine Möglichkeit zu flüchten.

 

Hinter ihnen befanden sich die Unigebäude. Von der anderen Seite hatten die Soldaten sie fast erreicht. Die Studenten skandierten dennoch weiter ihre Parolen für die Freiheit. Die Geräusche der Stiefel der Soldaten und der Armeewagen übertönten jedoch ihre Rufe. Nur noch fünfzig Meter lagen zwischen beiden Gruppen. Die Studenten drückten sich an die Hauswand. Einige von ihnen versteckten ihre Köpfe unter ihren Pullovern, um sich vor den Schlägen der Soldaten mit den Gewehrkolben zu schützen. Ich stand noch immer wie angewurzelt an meinem Platz und beobachtete gebannt, was vor sich ging. Ich hoffte, dass sich die Erde öffnete und diese Soldaten in die Tiefe riss, bevor sie die Studenten erreichen und ihr Blut auf der Wiese verteilen würden.Es war die Hoffnung auf ein Wunder, dass diese Demo schützen könnte, die Hoffnung auf die Menschenrechte, auf die wir immer gewartet hatten. Ich bat die Wände, durch ihre Steine hindurch einen Fluchtweg für die Studenten zu öffnen.

 

Die Geheimdienstleute hatten sich inzwischen wie eine Front in einer Reihe nebeneinander aufgestellt. Sie richteten ihre Waffen auf die Studenten. Ihre mächtigen Körper bildeten eine Mauer, die niemand durchbrechen konnte. Damit kesselten sie die Studenten ein, um sie an der Flucht zu hindern. Wenn die Geheimdienstleute gekonnt hätten, hätten sie den Studenten sogar die Luft zum Atmen genommen. Die Soldaten würden mit wenigen Schritten die Studenten erreicht haben. Plötzlich aber rannten diese auf die Soldaten zu. Sie sahen durch ihre Flucht nach vorn die einzige Möglichkeit, dem sich nähernden Militär zu entkommen. Als die Soldaten noch weiter entfernt waren, hatten die Studenten berechtigte Sorge, dass die Geheimdienstleute im Falle eines Fluchtversuches auf sie schießen würden. Jetzt, wo die Soldaten so nah waren, dass sie mit ihnen bereits zusammentrafen, würde der Geheimdienst nicht schießen, denn sie würden dann ebenso wie die Studenten auch Soldaten treffen. Ich konnte die Studenten zwischen den Soldaten nicht mehr erkennen, unter die sie sich gemischt hatten, deren grüne Anzüge allerdings weithin erkennbar blieben. Eine Szene, gemischt aus Schreien und Bewegung.

 

Hände bewegten sich und Körper fielen zu Boden. Die Hälfte der Studenten konnte fliehen. Ein Soldat rannte noch lange hinter einem fliehenden Studenten her. Der Soldat war sehr schnell und packte den Studenten, der sich jedoch wehren konnte, den Soldaten niederschlug und weiter floh. Die restlichen Studenten kämpften noch, schrien und schrien. Gruppen von fünf oder mehr Soldaten schlugen auf jeweils einen Studenten ein. Die Geheimdienstleute schossen währenddessen in die Luft, um den Studenten Angst zu machen. Die Beschimpfungen der Studenten durch die Soldaten schallten über das gesamte Unigelände. Diese Schlacht dauerte mehr als zehn Minuten. Die Soldaten schleiften die Studenten über den Boden und deren Blut rann an ihren Körpern herunter. Teile ihrer Kleidung waren zerfetzt oder komplett vom Körper gerissen. Die Armee-wagen standen bereit, um die geschundenen Körper aufzunehmen. Ein Student verteidigte sich und versuchte ungeachtet der Schläge fliehen. Er lief ein paar Schritte und direkt in die Arme einer anderen Gruppe von Soldaten, die gerade eine Verfolgung beendet hatten. Die Soldaten umringten ihn, einer schlug ihn mit dem Griff seiner Waffe auf den Kopf, bis er zu Boden ging. Der Student lag auf dem Boden; seine Kommilitonen befanden sich bereits alle im Armeewagen. Ich weiß nicht, ob er noch lebte oder schon tot war. Vier Soldaten trugen ihn wie einen Sack Mehl fort, jeder von einer Seite, und warfen ihn auf die Ladefläche eines Wagens. Alle Studenten waren gefesselt und fuhren auf diesen Wagen einem unbekannten Schicksal entgegen.

 

Und plötzlich war niemand mehr da. Auf der Wiese war es schlagartig ruhig geworden. Alle hatten sich entfernt. Es gab keine Regung mehr. Und erst jetzt bemerkte ich, dass die Kommilitoninnen neben mir standen. Wir waren alle drei ganz still. Wir betraten wortlos die Wiese der Schlacht und betrachteten die Auswirkungen des ungerechten Kampfes, der dort gerade eben stattgefunden hatte. Die Wiese wirkte nun unheimlich. Nie zuvor hatte ich eine echte Schlacht gesehen. Vor nur zwanzig Minuten war es hier noch vollkommen friedlich gewesen und es hatte eine schöne Aussicht auf die Wiese und Blumen gegeben. Die Stiefel der Soldaten und die dicken Reifen ihrer Wagen hatten alles zerstört. Tausende von Fußabdrücken und das Blut der Geschlagenen hatten sich mit zertretenen Grashalmen und Blumen gemischt. Zerrissene Pullover und Gürtel, Zettel, auf denen Freiheitsrufe notiert worden waren, Bücher und Hefte lagen überall verstreut. Die Studenten wurden entfernt, zurück blieben von ihnen nur diese Erinnerungsstücke. 

 

Das Übel hatte über das Gute gesiegt; Patronen waren gegen gebildete Worte angetreten, die den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft wünschten. Man weiß nicht, was aus diesen Studenten geworden ist. Man weiß nicht, ob der Student getötet wurde oder noch am Leben ist. Man weiß nicht, ob die Soldaten im Auto seinen Körper mit Füßen getreten und seine Seele noch mehr gebrochen haben. Oder ob er sich nur tot stellte, um sich gegen die Härte der Schläge zu schützen. Das sind die syrischen Soldaten. Das ist der syrische Geheimdienst. Das ist das syrische Regime, das seit fünfzig Jahren versucht, das System der Diktatur, der Ungerechtigkeit und des Verbrechens in der Gesellschaft zu installieren. Kriminalität und Zerstörung sind ihre Ziele und sie interessieren sich nicht für Menschlichkeit im Leben. Mit Waffengewalt und Terror sind sie immer bereit, gegen Menschen vorzugehen, die sich für ihre Rechte einsetzen. Die gesamte Bevölkerung muss das akzeptieren, ohne es kritisieren zu dürfen. Wörter und Sätze sind nur erlaubt, wenn sie das Regime loben und preisen.

 

Aus dem Arabischen ins Deutsche übertragen vom Autor, in Zusammenarbeit mit Sonja Oelgart.

 

 

Jabbar Abdullah, geboren 1988 in Raqqa / Syrien, hat in Aleppo und Alexandria Archäologie studiert und lebt seit Ende 2014 in Köln, wo er am Römisch-
Germanischen Museum arbeitet. Als aktive Stimme der syrischen Zivilgesellschaft organisiert er Veranstaltungen zu Literatur und Kunst in Deutschland (syrien-kunst-flucht.de) und engagiert sich in der Kölner Syrienhilfe. Der hier abgedruckte Text ist Teil eines abgeschlossenen Buchmanuskripts mit dem Titel »Raqqa am Rhein«