Road Trip mit Geisterblues

Seth und Carter lernen sich auf dem College kennen. Sie sind ein ungleiches Paar Männerfreunde. Carter ist der Star des Campus, ein millionenschwerer Erbe der Wallace-Familie, die ihr Geld in der Gefängnisindustrie verdient. Als Wiedergutmachung und vielleicht auch als Akt der Rebellion hat er sich ein Faible für afro-amerikanische Musik zugelegt — je älter, desto authentischer, desto besser. Seine große Liebe ist alter Blues auf Shellackplatten: kratzige Aufnahmen aus der Frühzeit des Musikgeschäfts, deren geisterhafte Sänger für ihn das Tor zu einem wahrhaftigeren Leben sind.

 

Seth ist ein Musik- und Techniknerd: schüchtern und selbstgenügsam. Seine Welt besteht aus einem Laptop mit Musiksoftware sowie selbstgebauten Parabol-Antennen, mit denen er auf Spaziergängen Alltagsgeräusche aufzeichnet. Auf einem dieser Spaziergänge landet der Bluessong eines Straßenmusikers auf seinem Aufnahmegerät. Im Studio trimmen Seth und Carter dessen Song auf alt und kratzig und posten ihn als verschollene Aufnahme des Sängers Charlie Shaw aus dem Jahr 1928 im Internet.

 

»White Tears«, der fünfte Roman von Hari Kunzru, ist eine Gespensterjagd, in der die Vergangenheit immer wieder in die Gegenwart eindringt. Als sich ein kauziger Bluessammler bei Seth und Carter meldet, um herauszubekommen, was die beiden über Shaw wissen, beginnt eine verwirrende Geisterjagd. Carter fällt nach einem Überfall ins Wachkoma, Seth wird von Carters Familie verstoßen, woraufhin er das Geheimnis hinter Shaws (Nicht-)Existenz lüften will. Kunzru schickt seinen Protagonisten auf einen Road-Trip nach Mississippi und springt ohne Ankündigung zwischen dem 21. Jahrhundert, der Zeit der Bürgerrechtsbewegung und den späten 20er Jahren. Die Zeit ist in »White Tears« aus den Fugen geraten, die Figuren entstammen jedoch dem wertstabilen Fundus klischeehafter Männlichkeit. Die Bluessammler sind tageslichtscheue Vinylfetischisten,  Carter ein selbstvergessener Sohn aus gutem Haus. Lediglich bei Seth bleibt bis zum Schluss unklar, ob er seine Rachefantasien gegen Carters Familie jemals in die Tat umgesetzt hat.

 

»White Tears« ist ein Essay in Romanform, eine Abhandlung über die Unmöglichkeit, historische Schuld mit den Mitteln der Kultur wiedergutzumachen, die sich als Detektivgeschichte tarnt. Und Kunzru gerade deshalb so leicht von der Hand geht.

 

Hari Kunzru: »White Tears« Liebeskind 2017, 352 S. 22 Euro