stadtrevue liest

Christine Ott: »Identität geht durch den Magen — Mythen der Esskultur«

Mathieu Riboulet: »Und dazwischen nichts

Jonas Mekas: »Ich hatte keinen Ort — Tagebücher 1944–1955«

Frank Dikötter: »Mao und seine verlorenen Kinder — Chinas Kulturrevolution«

 

 

Christine Ott: »Identität
geht durch den Magen — Mythen der Esskultur«

 

Unser Alltag ist heute voller Essen, und folglich auch voll von kulinarischem Wissen, Halbwissen und eben auch Mythen der Esskultur. Letzteren widmet sich die Literaturwissenschaftlerin Christine Ott. In sechs Kapiteln zeigt sie, wie Essen Identität stiftet. Ihr Stil ist akademisch, manches liest sich auch zäh, gerade wenn der Jargon die Gedanken fast zwangsläufig in den postmodernen Theorie-Mainstream leitet. Es gibt »nicht-intentionale Begleiteffekte«, »Repathologisierungen«, und alles, was jemand über Essen sagt, wird sogleich zum »Narrativ«. Trotzdem: Wenn Ott etwa über Zucker, Fleisch oder Milch redet, werden ideengeschichtliche Traditionen deutlich. Otts Quellen sind meist literarischer Art: von Rabelais über den Schelmenroman und Rousseau bis zu Günter Grass. Bevorzugt streift Ott durch die  Krisengebiete der kulinarischen Landschaft: Hunger, Futterneid, Genussssucht, Essstörungen, Ekel, Gastro-Chauvinismus, auch »Essen und Gender« darf nicht fehlen. Fachwissenschaftliche Publikationen werden dann angeführt, wenn sie eine These stützen. Dennoch ist das Buch eine Empfehlung für alle, die sich für die kulturellen, ideen-geschichtlichen und soziologischen Aspekte des Essens interessieren. Appetit macht dieses Buch nicht, aber klüger. (Bernd Wilberg)

Fischer 2017, 496 S. 26 Euro

 

 

Mathieu Riboulet:
»Und dazwischen nichts«

 

»Ich mache keine Geschichtsschreibung, ich mache auch keine Geschichten. Ich fühle mich der Zwischenzeit verpflichtet.« Doch zwischen Aufbruch und Niederlagen der Linken Europas liege, so Riboulets Ich-Erzähler, nichts außer der »stummen Zone« jener Generation, die nach ihrem Platz in den Geschichtsbüchern sucht. Als Kinder der 60er Jahre sind sie für den bewaffneten Kampf der 68er noch zu jung, und durch ihre Sexualität sind sie gleich zweifach marginalisiert. In der Tradition französischer Autoren wie Didier Eribon bewegt sich auch Riboulets Protagonist am peripheren Knotenpunkt von Homosexualität und Politik, anhand dessen er das Scheitern sozialer Bewegungen hinterfragt. -Poetisch, aber auch vulgär, beschreibt der Erzähler rückblickend sein sexuelles Erwachen in den Folgejahren linksradikaler Proteste in Frankreich, Italien und Deutschland. Die Revolution, so sagt er, sei nicht länger die Politik, sondern der Sex. Doch dieser militante Rausch einer neuen Körperlichkeit wird bereits Ende der 70er Jahre mit der Ermordung zahlreicher Widerstandskämpfer und spätestens mit dem Aufkommen von Aids im Kessel des Wohlstandes erstickt, zusammen mit allen Sehnsüchten. (Verena Scheithauer)

Matthes & Seitz 2017, 218 S. 20 Euro

 

 

Jonas Mekas: »Ich hatte keinen Ort — Tagebücher 1944–1955« 

 

»Ich bin weder Soldat noch Partisan. Ich eigne mich weder körperlich noch geistig für solch ein Leben. Ich bin ein Dichter.« Das schreibt Jonas Mekas zu Beginn seines »Tagebuch 1944 bis 1955«. Ein Leben als Künstler bleibt dem 1922 in Litauen geborenen späteren »Paten des amerikanischen Avantgardekinos« allerdings lange Zeit verwehrt. Stattdessen wird Mekas 1944 Teil einer Untergrundgruppe, die gegen die deutsche Besatzung kämpft, und muss, als er aufzufliegen droht, verschwinden. Als Student getarnt macht Mekas sich in Richtung Wien auf, wo er jedoch niemals ankommt — hier setzen seine Tagebücher ein. »Ich hatte keinen Ort« sind sie betitelt und diese Ortlosigkeit zieht sich als roter Faden durch die Jahre 1944 bis 1955. Von den Deutschen vertrieben und verhaftet, lebt er bis zum Kriegsende als Zwangsarbeiter in Hamburg, erlebt als ortlose displaced person die ersten Nachkriegsjahre, studiert Philosophie in Mainz, migriert 1949 mit seinem Bruder Adolfas nach New York, wo er zwischen Fabrikarbeit, Museumsbesuchen und Hochzeitsfilmarbeiten nach einem neuen Ort für sich sucht. Das vorläufige Ende dieser Suche ist 1955 der Experimentalfilm, der Mekas zumindest einen Platz in der Kunst ermöglicht. (Jonas Engelmann)

Spector Books 2017, 576 S. 22 Euro

 

Frank Dikötter: »Mao und seine verlorenen Kinder — Chinas Kulturrevolution«

 

Die chinesische Kulturrevolution gehört zu den verstörendsten Ereignissen des 20. Jahrhunderts: Ein Alleinherrscher, Mao, ruft die Jugend zur Revolte gegen seine eigene Partei auf. Was sollte das? Eine abgeschmackte Palastrevolte? Oder eine weltweit einmalige Selbstkritik der kommunistischen Bewegung? Frank Dikötter, holländischer Sinologe, der seit Jahr und Tag in Hongkong lehrt, hat mit »Mao und seine verlorenen Kinder« (der Originaltitel ist passender: »The Cultural Revolution — A People’s History«) nicht die definitive, aber eine sehr übersichtliche und zum Ende hin überraschende Deutung der Ereignisse von 1962 bis 1976 vorgelegt. Dikötter schildert den Machtkampf der zerfallenden Herrscher--Cliquen. Am Ende entpuppt sich die Kulturrevolution de facto als ein Militärputsch, aber viel spannender ist die Perspektive »von unten«, die Dikötter einnimmt. Wie gingen die einfachen Leute mit dem Chaos um? Gewitzt und anarchisch-kapitalistisch: Sie tauschten auf riesigen Schwarzmärkten, organisierten einen geheimen Handel und bauten sogar Untergrundfabriken auf. Kurzum: Sie legten den Grundstein des chinesischen Kapitalismus, wie er ab 1980 mit Deng Xiaoping dann ganz offiziell durchstartete. (Felix Klopotek)

Konrad Theiss Verlag, 441 S. 39,95 Euro