Wie geht Revolution?

Lutz Taufer kennt den Knast und die Favelas. Er war Teil der Anti-Psychiatrie-Bewegung und der RAF. Für seine Beteiligung an der Geiselnahme in der

deutschen Botschaft in Stockholm 1975 saß er 20 Jahre in Haft, danach ging

er nach ­Brasilien. Jetzt hat Lutz Taufer seine Autobiografie geschrieben

Ihre Autobiografie trägt den Titel »Über Grenzen« und handelt von verschiedenen Grenzerfahrungen. Inwiefern haben Sie mit dem Schreiben des Buchs eine weitere Grenze überschritten?

 

Ich hatte schon länger vor, meine Erinnerungen aufzuschreiben, aber erst, als ich 2012 aus Brasilien nach Deutschland zurückkehrte, konnte ich mich an die Arbeit machen. Das Schreiben war schon eine Grenzüberschreitung. Ich hatte das Bedürfnis, mein Leben in die Hand zu nehmen, vieles genauer zu definieren und zu beschreiben. Ich fühle mich heute, um es pathetisch auszudrücken, als anderer Mensch. 

 

 

Das Buch rollt Ihre eigene Vergangenheit im Kontext der deutschen Nachkriegsgeschichte und weltweiter Kämpfe gegen Diktatur und Kapitalismus auf. Richtet sich diese Art der Aufklärung bewusst an jüngere Leser?

 

Ja. Das hängt mit Erfahrungen zusammen, die ich in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit gemacht habe. Dort habe ich mit jungen Leuten über die RAF gesprochen. Als ich über ein entscheidendes Erlebnis meiner Generation geredet habe, den Putsch in Chile, stellte sich heraus, dass sie den Namen Pinochet noch nie gehört hatten. In den Medien erscheint die RAF meistens so, als sei sie auf einer blühenden grünen Sommerwiese entstanden. Niemand weiß mehr so recht, wie es dazu kam. Ich wollte diesen Teil meines Lebens — Stockholm, RAF, Knast — historisch richtig einordnen, damit man ihn vernünftig diskutieren kann.

 

 

Sie sind 1944 geboren, Ihr Buch beginnt mit Ihren Eltern und dem beklemmenden Klima in der süddeutschen Provinz. Was gehört für Sie noch zur historischen RAF-Einordnung?

 

Die RAF hat sich als Teil einer Front gegen den US-Imperialismus verstanden. Was uns Mut machte, aber auch  zu Fehleinschätzungen führte, war die Tatsache, dass in Vietnam eine Bauernarmee auf Gummireifensandalen und in Pyjamas die stärkste Militärmacht der Welt in die Defensive drückte, während in Kuba etwas Vergleichbares lief. Wir waren uns sicher, dass das Ende des Kapitalismus bevorsteht und hatten die Vorstellung, man könne ihn endgültig zerschlagen. Heute weiß ich, dass man gegengesellschaftliche Strukturen entwickeln muss,
um Menschen davon zu überzeugen, dass etwas Besseres heranwächst als das, was sie im Alltag vorfinden.

 

 

Warum hat die legale Auseinandersetzung mit und in den gesellschaftlichen Institutionen nicht gereicht, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen?

 

In der damaligen Gesellschaft gab es viele Nazis, und das Problem war nicht, dass sie früher Nazis waren, sondern dass sie es mehr oder weniger immer noch waren. Wir sahen keine Möglichkeit, uns im Land  dieser faschistischen Sekundärtugenden einzurichten, die den Alltag bestimmten. Gleichzeitig hatten wir siegreiche Befreiungsbewegungen vor Augen. Das war die spezielle Situation in Deutschland. In Italien war es anders. Da hatte es ab 1945 die Entwicklung einer antifaschistischen Kultur gegeben. Daran konnte angesetzt werden. In Frankreich hatte die Philosophie von Sartre ihre Wurzeln in der Résistance. In Deutschland gab es so etwas nicht. 

 

 

Welche Rolle spielte das »Sozialistische Patientenkollektiv« (SPK)?

 

Damals wollte ich wissen: Wie geht Revolution? Wir waren sehr theoriegläubig, lasen die Blauen Bände von Marx und Engels, ich studierte die Französische und die Oktoberrevolution. Aber wir haben uns auch mit Psychiatrie und Heimerziehung auseinandergesetzt. Das SPK war, um es verkürzt auszudrücken, ein sozialrevolutionärer Ansatz. 

 

 

1975 stürmten Sie mit dem Kommando Holger Meins die deutsche Botschaft in Stockholm, um gefangene RAF-Mitglieder freizupressen. Es kamen mehrere Menschen ums Leben und Sie wurden festgenommen. Warum ist dieser Episode im Buch nur ein kurzes Kapitel gewidmet?

 

Es geht in dem Buch um unterschiedliche Grenzüberschreitungen. Meine spätere renzüberschreitung nach Brasilien ist eine Sache, die Erschießung von zwei Geiseln, die wir als Gruppe zu verantworten haben, ist eine andere. Das kann man nicht vergleichen. In der Haft habe ich lange gebraucht, bis ich die Ereignisse von Stockholm an mich heranlassen konnte. Überhaupt — die Erinnerung. Ein alter Schulkamerad schrieb mir: Wie kannst du bloß so viel erinnern? Das flog mir nicht zu, es war eine archäologische Arbeit.

 

 

Und die Erinnerung an Stockholm war besonders harte Arbeit?

 

Das war es. Die Erschießung zweier wehrloser Geiseln, die ich mit zu verantworten habe, ist ein Verbrechen, für das es keine Rechtfertigung gibt. Zu einer gerechteren und humaneren Gesellschaft trägt das nichts bei. Das wusste ich zwar schon lange, aber es aufzuschreiben und zu veröffentlichen, ist dann nochmal eine andere Hürde. Ich habe mich dieser Vergangenheit auch gestellt, indem ich mich mit dem Inhalt von 30 Kartons auseinandergesetzt habe, meiner so genannten Habe, die mir mit meiner Entlassung 1995 ausgehändigt wurden, darunter Tausende Briefe und Briefdurchschläge. 

 

 

Die 20-jährige Haft und die lange Isolation schildern Sie ausführlich. Wie sehr spüren Sie deren Nachwirkungen noch heute im Alltag?

 

Als ich entlassen wurde, ging ich nach einem Dreivierteljahr nach Uruguay. Ich besuchte die Tupamaros, eine Stadtguerillagruppe aus den 1960er Jahren. Nachdem ich mit Menschen in Armenvierteln geredet hatte, kam mir die Idee zu einem Film über die Frage, was es mit einem macht, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht — und kämpfen muss. Wenn mir vor dem Knast einer gesagt hätte, dass ich einen Hungerstreik von neun Wochen machen würde, hätte ich erwidert, er habe nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber ich habe es geschafft. Das empfinde ich nicht als Verdienst, aber es hilft mir heute noch. Ich habe mich als jemand erlebt, der Herausforderungen annimmt und sie überwindet. 

 

 

Sie haben im Gefängnis Diskussionen innerhalb der RAF-Gefangenen angestoßen. Haben Sie dabei auch Grenzen überschritten?

 

Das kann man so nennen. Auslöser war 1977 die Entführung der Landshut-Maschine mit Mallorca-Urlaubern. Mein Mitgefangener Karl-Heinz Dellwo und ich brachen ein Tabu, indem wir diese Aktion kritisierten. Ich hätte mir gewünscht, dass mehr Diskussionen stattgefunden hätten unter uns Gefangenen. 

 

 

Wünschen Sie sich das immer noch?

 

Der kleine Hoffnungsschimmer ist schon verflogen, dass mein Buch mal zu einer Diskussion beitragen könnte. Von meinen ehemaligen Mitgefangenen kam kaum eine Reaktion. Es wäre auch ein bisschen spät, denn unsere Diskussion müsste nach dem Scheitern der RAF eine Antwort auf die Frage liefern: Wie können wir gemeinsam auf einer anderen Ebene politisch weitermachen? Das haben die Tupamaros oder die italienischen Roten Brigaden geschafft.

 

 

In den Passagen nach Ihrer Freilassung kommt viel Humor durch — etwa als Sie in Hamburg schwarzfahren, weil der Fahrkartenautomat zu kompliziert ist. Haben Sie sich den Humor über die lange Haftzeit bewahrt oder mussten Sie ihn erst wiederentdecken?

 

Der Humor war wichtig, um im Gefängnis zu überleben. Mal über sich selbst lachen, ohne dass die Welt gleich untergeht. Die Diskussionen wurden in unserem Milieu ja immer sehr hart geführt. Da musste es noch etwas anderes geben als 24 Stunden Revolution. 

 

 

Wie waren Ihre ersten Eindrücke von der Welt nach 20 Jahren Haft — und wie hat sie sich in den gut 20 Jahren seit Ihrer Entlassung entwickelt?

 

Am Tag nach meiner Entlassung sind mir am Hauptbahnhof die vielen Bettler aufgefallen. Als ich in den Knast gekommen war, gab es in Deutschland längst nicht so viele Bettler. Gleichzeitig war das Bahnhofsinnere aufgemotzt mit Boutiquen. Die Reizüberflutung machte mich schnell müde. Im Kino bin ich jedes Mal eingeschlafen und habe dabei laut geschnarcht. Ich hatte oft das Bedürfnis, mich zurückzuziehen. Also habe ich mich in einen abgelegenen Winkel von Planten und Blomen gesetzt, einem Park in Hamburg — und nichts gemacht. Heute erscheint mir die Welt politisch unübersichtlicher als zu meiner Zeit. Das heißt nicht, dass man kapitulieren soll. Aber man muss bereit sein, unkonventionell nachzudenken und sich zu wehren. Mit Latschdemos erreicht man niemanden und nichts. Aber Supermärkte anzünden, während oben drüber Leute Angst haben zu verbrennen — das geht auch nicht. 1968 war die Rede von der begrenzten Regelverletzung. 

 

 

Das Buch trägt den Untertitel »Vom Untergrund in die Favela«. Wie verhalten sich Ihre Erfahrungen in Brasilien zu der Zeit in Deutschland, in der Sie politisiert wurden?

 

Es gab in Deutschland den Faschismus, der in unser Leben hineinragte. In der brasilianischen Favela gibt es etwas anderes. Die Sklaverei, die erst 1888 abgeschafft wurde. Seither wird den Favelados eingebimst: »Ihr seid dumm und kriminell und braucht einen, der über euch steht!« Ich bin als Entwicklungshelfer für den Weltfriedensdienst dorthin gegangen, aber ich wollte die Menschen befähigen, ihre eigenen Talente und Fähigkeiten zu entdecken. Es waren tolle Erlebnisse, wenn Leute eine Kooperative aufgebaut oder ein Frauenhaus durchgesetzt haben. Ein gutes Kollektiv sollte aus selbständig handelnden Individuen bestehen. Das ist mein Ideal — und darüber habe ich in den Favelas viel gelernt.

 

 

Ihr ursprünglicher Plan war es, dort als Bäcker zu arbeiten. Backen Sie noch?

 

Eigentlich nicht. Brotbacken ist eine tolle Sache, aber ich habe in den letzten Jahren sehr intensiv gearbeitet — ich bin ja kein Ruheständler, sondern Unruheständler. Heute backe ich mir höchstens mal morgens ein Croissant auf.