Der verdrängte Weltmeister

Albert Richter war Radrennfahrer und Antifaschist. In den Nachkriegsjahren wollte sich lange niemand an ihn erinnern. Am 8. Oktober huldigen Hobbyradler dem großen Radsportler mit der »Tour de Respect«

 

 

 

 

 

Am Silvestertag 1939 tritt Albert Richter seine letzte Reise an. Wenige Wochen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs besteigt er in seiner Heimat Köln einen Zug in die Schweiz. Im Reifen seines Rads hat er 12.700 Reichsmark versteckt, die er für einen im Ausland lebenden jüdischen Freund schmuggelt. Kurz vor dem Grenzübergang entdecken -Kontrolleure in Weil am Rhein das Geld. Richter wird in das Gerichtsgefängnis von Lörrach gebracht. Wenige Tage später ist er tot.

 

»Albert Richter war ein Mensch, der sich gegen das NS-Regime stellte und dafür mit dem Leben bezahlen musste. Er ist ein Vorbild, auch heute noch«, sagt Elisabeth Odendahl. Die Kölner Hobby-Radsportlerin veranstaltet am 8. Oktober die »Tour de Respect«, eine »Radrundfahrt gegen Antisemitismus und Rassismus«. Pate steht eben jener Albert Richter, der lange Zeit vergessene Kölner Bahnrennfahrer und engagierte Antifaschist.

 

Geboren wird Richter 1912 in eine Arbeiterfamilie in Ehrenfeld. Köln ist damals eine Hochburg des Radports. Bereits 1880 wird der 1. Bicycle Club Cöln gegründet, seit 1889 gibt es eine Radrennbahn an der Riehler Straße. Zwischen den Weltkriegen existieren zeitweilig fünf weitere Bahnen in Köln. Die Stadtwaldbahn lockt regelmäßig bis zu 20.000 Besucher. Zahlreiche Radsportlegenden kommen aus Köln. 1927 findet die Weltmeisterschaft der Amateursprinter in Köln statt, seit 1928 in der ehemaligen Rheinlandhalle in Ehrenfeld das Sechstagerennen. Die »Six days« erfreuen sich so großer Beliebtheit, dass Fans vom Nachbargrundstück aus Gänge graben, um ohne -Karten hineinzugelangen. 

 

Auch Richter widmet sich dem Bahnradsport — mit Erfolg. 1932 gewinnt er als 19-Jähriger den renommierten Grand Prix de Paris, im gleichen Jahr wird er in Rom -Weltmeister der Amateure im Sprint. Richter wird Profi, gewinnt von 1933 bis 1939 ununterbrochen die Deutsche Meisterschaft der »Flieger«, wie die Sprinter damals bezeichnet werden, wird zwei Mal Vizeweltmeister. Auch den Grand Prix de Paris kann er zwei weitere Male für sich entscheiden. 

 

Trotz seiner Erfolge gerät der »Deutsche Achtylinder«, wie französische Zeitungen ihn getauft hatten, nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Vergessenheit. Nach seinem angeblichen Selbstmord löscht der Deutsche Radfahrer-Verband Richters Namen aus den Siegerlisten. Nichts erinnerte mehr an den so erfolgreichen Sportler, den nach -seinem Weltmeistertitel Tausende begeisterte Kölner am Neumarkt empfingen.

 

»Seine Bedeutung lag bei Null«, sagt Andreas Hupke. Auch der heutige Bezirksbürgermeister Innenstadt hatte noch nie von Richter gehört — bis er 1990 eine Fernsehdokumentation des Norddeutschen Rundfunks über den vergessenen Sportler sah. Für Hupke war klar: Dieser Kölner muss aus der Vergessenheit geholt werden. »Albert Richter ist einer der größten Sportler, die Köln je hervorgebracht hat«, sagt Hupke. Doch Richter war noch mehr als das — er war zeit seines Lebens engagierter Antifaschist. Er verweigerte bei Turnieren den Hitlergruß und trat bei internationalen Turnieren demonstrativ mit dem Reichsadler anstelle des Hakenkreuzes auf dem Trikot auf. Sein Manager war Ernst Berliner, ein Jude. Richter hielt ihm auch die Treue, als Juden aus dem »arischen« Sportbetrieb ausgeschlossen waren. Er zählte französische, belgische und niederländische Sportlerkollegen zu seinen engsten Freunden. Anwerbungsversuchen der Gestapo als Spitzel verweigerte er sich.

 

»Albert Richter war ein toleranter Mensch, der über Grenzen und Nationen hinaus gedacht hat, und zu Freunden stand, unabhängig von Religion und Hautfarbe«, sagt Renate Franz. Auch die Kölner Journalistin sah damals die Dokumentation — und stellte ein Jahr später gemeinsam mit Hupke einen Bürgerantrag, das damals im Bau befindliche Radsportstadion in Müngersdorf nach Richter zu benennen. Es gab Widerstände, unter anderem vom damaligen Sportamtsleiter Werner Gerhards. 1995 einigte man sich auf einen Kompromiss: Das Stadion trägt den Namen Radstadion Köln, die eigentliche Bahn ist nach Richter benannt. »Die politische Mehrheit ist unserem eigentlichen Vorschlag damals nicht gefolgt«, sagt Hupke. Es schwingt immer noch Empörung in seiner Stimme mit.

 

Vor allem Franz lässt das Thema nicht mehr los. Bis heute ist sie die Autorin der einzigen Biografie Richters mit dem Titel »Der vergessene Weltmeister« von 1998. Es ist auch Franz und ihrem Buch zu verdanken, dass Richter 2008 posthum in die »Hall of Fame des deutschen Sports« der Deutschen Sporthilfe aufgenommen wurde. Die Arbeit glich einem Puzzle, erinnert sich Franz, geprägt vom Verdrängen der Nachkriegsjahre. »Den kannte hier doch keiner, der war nicht wichtig«, solche Sätze zogen sich durch die Recherche. Ob beim Rennfahrer-Stammtisch »Ahle Rennfahrer« oder bei ehemaligen Funktionären. Das Verdrängen war nicht selten politisch motiviert: So fand Franz heraus, dass ein nach dem Krieg führender Kölner Radsport-Funktionär bei der Gestapo und an Judendeportationen beteiligt war.

 

Trotz jahrelanger Recherche ist Richters Tod in Lörrach bis heute nicht vollständig aufgeklärt. An Selbstmord glaubten weder Radfahrerkollegen noch Familienangehörige. Auch Renate Franz nicht, zu viele Indizien sprächen dagegen. »Ich vermute, dass er erschossen worden ist. Das ist aber auch nicht wesentlich. Er ist schuldlos zu Tode gekommen, das ist entscheidend«, so Franz. 

 

Für sie war Richter eine Idenfitikationsfigur, die eine wichtige Rolle hätte spielen können. »Ich frage mich oft, wie es gewesen wäre, wenn er überlebt hätte. Anders als mancher Radsportfunktionär, der schon vor 1945 im Amt war, war er Europäer, sprach fließend Französisch, hatte viele Freunde im Ausland. Was hätte er nach dem Krieg nicht alles für den Radsport leisten können?«, so Franz. Elisabeth Odendahl sieht das ähnlich. Auch sie will mit der »Tour de Respect« Richters Erbe hochhalten. 2008 fand die erste Ausgabe statt, eine Fahrt in sechs Etappen von Köln nach Paris. 2012 fuhr man erstmals zu Ehren Richters und lud prominente Gäste ein. Der in Kalifornien lebende Urenkel von Ernst Berliner reiste an, ebenso die Nichten von Richter.  Nach fünf Jahren Pause soll es nun erstmals wieder eine Tour de Respect geben. »Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz nehmen bedrohlich zu«, so Odenthal. Die Zahlen geben ihr recht, die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland stieg im ersten Halbjahr 2017 an, wie eine Antwort der Bundesregierung auf eine Grünen-Anfrage im September nahelegte.

 

Rund 50 Kilometer rund um Köln soll es gehen, am Zielort Radstadion finden Vorträge und Diskussionen statt. Unterstützt wird die Veranstaltung unter anderem vom NS-Dokumentationszentrum und Makkabi Köln. Auch Hupke ist mit von der Partie: »Bei allem, was mit Albert Richter zu tun hat, bin ich dabei. Das ist verpflichtend für mich«, sagt er. Geht es nach Hupke, könnte das Gedenken in der Stadt präsenter sein. Eine Straßenbenennung sei angemessen, findet er. »Es geht darum, Richter noch mehr ins Gedächtnis zu holen. Aber dass ihn nun überhaupt der ein oder andere kennt, ist schon viel.« An Richters Geburtshaus an der Sömmeringstraße prangt seit 2009 ein Stolperstein. »Hier wohnte Albert Richter. Jg. 1912. Flucht 1939 Schweiz. An Grenze verhaftet. 31.12.1939. Gerichtsgefängnis Lörrach. Tot aufgefunden. 3.1.1940.«