In der Alptraumfabrik

Obsessionen in der Endlosschleife: Mit »Inland Empire«

nimmt David Lynch die letzte Ausfahrt in Richtung Videokunst

 

In den Filmen David Lynchs ist die Traumfabrik mehr als nur ein Wort. Kein anderer Regisseur vertraut so rückhaltlos auf die Eingebungen, die aus der Tiefe seines Unterbewussten steigen. Doch vor allem hat es nicht einmal Alfred Hitchcock geschafft, die größte Filmindustrie der Welt derart unverhohlen vor den Karren seiner Obsessionen zu spannen.

»Es ist eine verrückte Welt – hier in meinem Kopf«, scheint Lynch mit jeder Einstellung zu sagen, und es ist genau diese Unfähigkeit, sich zu verstellen, die ihn vom weitaus erfolgreicheren Hitchcock unterscheidet. Als den Produzenten aufging, dass sich mit Lynchs Traumarbeit auf Dauer kein Geld verdienen lässt, hörten sie einfach auf, seine Fantasien zu finanzieren. Seitdem nagt eine weitere Obsession an Lynch: das kalte Herz von Hollywood.

Stark verrätselter Film

Natürlich ist David Lynch nicht der einzige Regisseur, dem der Geschäftssinn der Studio­bosse einen Strich durch die künstlerische Rechnung machte. Aber er ist der erste, der sich dafür auf der Leinwand revanchieren kann. Während sich Orson Welles sein Leben lang in halbfertigen Projekten aufrieb, konnte Lynch sein Meisterwerk »Mulholland Drive« mit einer Finanzspritze des französischen Fernsehsenders Canal + vollenden. Und was hätte Erich von Stroheim wohl mit der Digicam angefangen, die Lynch in seinem neuesten Film »Inland Empire« verwendet? Vermutlich hätte er sich wie dieser einmal richtig ausgetobt und darauf vertraut, dass ein ruinierter Ruf im Filmgeschäft die beste Visitenkarte für künstlerische Weihen ist.

»Inland Empire« ist Lynchs bislang am stärksten verrätselter Film, eine dreistündige Expedition nach Lynchland, in deren ausgesucht schlechter Bildqualität man ebenso gut eine künstlerische Strategie wie eine kindische Trotzreaktion erkennen kann.

Alles wird zum Alptraum

Laura Dern spielt Nikki Grace, eine berühmte Schauspielerin, die mit einem krankhaft eifersüchtigen Mann verheiratet ist, aber dummerweise in ihrem neuesten Film auf Hollywoods größten Schwerenöter trifft. Um die Sache noch etwas anzuheizen, handelt Nikkis Film »On High in Blue Tomorrows« von einem gemeinsam begangenen Ehebruch. Schon bald verschwimmen die Ebenen von Fiktion und Realität, und am wenigsten weiß der weibliche Star zwischen ihnen zu unterscheiden. Doch ist sie überhaupt, wer sie zu sein glaubt? Plötzlich tauchen überall Doppelgängerinnen auf, und die mondäne Filmhandlung spiegelt sich in der Gosse von Los Angeles. Ausgerechnet auf dem Walk of Fame stirbt Nikki im eigenen Blut und erfüllt damit eine unheimliche Prophezeiung. Denn »On High in Blue Tomorrows« ist das Remake eines nie vollendeten Films, dessen Hauptdarsteller ermordet wurden.

Unter den Händen David Lynchs verwandelt sich früher oder später alles in einen Alptraum: die Sexualität (»Blue Velvet«), die Ehe (»Eraserhead«, »Lost Highway«) oder wie in »Twin Peaks« gleich die ganze bürgerliche Welt. In »Mulholland Drive« stilisierte Lynch die Traumfabrik schließlich selbst zum verwunschenen Ort mit lauter Falltüren in ein unheimliches Schattenreich. »Inland Empire« schließt daran an, wenn er sein Publikum ständig darauf stößt, dass jeder Film eine künstliche Realität hinter der wahren ist.

Visuelles Tagebuch in Endlosschleife

Während der Proben zu »On High in Blue Tomorrows« schleicht jemand oder etwas durch die halbfertigen Kulissen – eine Filmstunde später entdeckt Nikki, dass sie sich selbst beim Einstudieren ihrer Rolle zugesehen hat. »Wie geht das?« war schon in »Lost Highway« die Frage aller Fragen, und wie damals hat es auch in »Inland Empire« keinen Sinn, ihr länger als bis zum nächsten Rätsel nachzuhängen.

In seinen besten Filmen hat David Lynch eine Balance zwischen der klassischen Erzählform und den Brüchen einer halluzinatorischen Wahrnehmung gehalten und sich bei aller Hingabe ans Surreale als Meister der narrativen Konzentration gezeigt. Mit der Digicam in der Hand ist davon nichts mehr zu spüren. »Inland Empire« ist weniger ein persönlich gefärbter Spielfilm als ein visuelles Tagebuch, das aus dem Schmollwinkel der Kunst den Weg in unsere Kinos findet.

Ein gutes Drittel des Films spielt im polnischen Lodz, weil Lynch dort einmal einen Preis verliehen bekam, und das absurde Hasentheater, zu dem die Handlung immer wieder zurückkehrt, steht seit geraumer Zeit auf seiner Website online. Ansonsten führt uns Lynch noch einmal seine Markenzeichen als Endlosschleife vor: gespaltene Persönlichkeiten und gerissene Erzählfäden, perspektivisch verzerrte Gesichter und Kamerablicke in leere Flure, vibrierende Räume und Popmusik der 60er Jahre. Es gibt nicht viel Neues im Hause Lynch; der Verrat lauert weiterhin in jedem Winkel und vergiftet die Beziehungen. Erst zwischen Mann und Frau und dann zwischen Traumfabrik und Träumenden.

Inland Empire (dto) USA/POL u.a. 06,
R: David Lynch, D: Laura Dern, Jeremy Irons, Harry Dean Stanton, 172 Min., Start: 26.4.