»In Entwicklungsländern weiß jede Marktfrau, was die Weltbank macht«

Global brutal: Florian Opitz zeigt im Dokumentarfilm »Der große Ausverkauf« an Einzelschicksalen die Folgen von Privatisierungen

Eine mitreißende Dokumentation über Globalisierung und Privatisierung – ist das ein Widerspruch in sich? »Der große Ausverkauf« nähert sich dem sperrigen Thema über die Schicksale der Opfer. Und so gelingt die Quadratur des Kreises: Minda in Manila kämpft nach der Privatisierung der Kliniken um das Leben ihres Kindes; der englische Lokführer Simon ­erzählt von den Wirrungen ständig wechselnder Eisenbahngesellschaften; in ­Soweto berichtet Bongani von der lebens­bedrohlichen Situation, wenn Elektrizität zu Privatgut wird. Neben den emotiona­len, geschickt ineinander verschränkten Geschichten, erläutert Joseph Stiglitz, einstiger Chef-Ökonom der Weltbank und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, dem Regisseur Florian Opitz ruhig und sachlich die desaströsen Fakten eines dramatischen Phänomens. Sehr sehenswert.

StadtRevue: Wollen wir erst mal ein paar Hürden abbauen: Allein der Begriff »Privatisierung«, um den Ihr Film kreist, ist ja sehr abstrakt.

Florian Opitz: Damit haben wir natürlich zu kämpfen, dass die Leute trockenen Stoff erwarten. Aber: Das ist kein Vortrag von Experten der Privatisierungspolitik. Es geht ja um Geschichten. Abstrakt ist der Begriff tatsächlich nur regional, zum Beispiel in Deutschland. In Entwicklungsländern weiß buchstäblich jede Marktfrau, was die Weltbank ist und was die macht. Die beeinträchtigt ihr persönliches Leben eben mehr als die Politik ihrer Regierung. In Deutschland hingegen wissen vermutlich 95 Prozent nicht, was das überhaupt sein soll. Redakteure sagten mir damals auch direkt, sie würden das Thema »Globalisierung« nur noch in Nachrichten verwerten, derlei Dokumentationen hätten keinen Platz im deutschen Fernsehen.

Der Begriff »Globalisierung« ist mittlerweile etabliert. Als Sie mit den Recherchen begannen, war das noch ein Nischenthema.

Vorher hatte ich einen Film über amerikanische Globalisierungskritiker und ihre Aktionen für das Fernsehen geplant. Nach dem 11. September haben sie ihre Aktivitäten komplett eingestellt – staatskritische Ansätze waren seinerzeit in den USA einfach zu gefährlich, und der Film somit geplatzt. Inzwischen war Attac entstanden, und der WDR gab mir einen Auftrag über dieses Thema. Diese deutsche NGO-Perspektive war aber für mich ziemlich unbefriedigend, das war alles so müslimäßig. Aus der Frustration entstand die Idee, dieses Thema filmsprachlich auf eine andere Weise zu erzählen. Also eben bewusst Menschen zu porträtieren, die unter Globalisierung und Privatisierung leiden, damit es auch für Leute begreifbar wird, die nicht so tief in der Materie sind.

Warum spielt keine Geschichte in Deutschland?

Wenn man zuerst eine Episode um Leben und Tod in Soweto erzählt und dann die Privatisierung der Telekom parallel montiert – das funktioniert nicht. Generell ist die soziale Grundsituation in Deutschland noch nicht so dramatisch. Und das Thema Privatisierung war 2003 noch nicht so bekannt in Deutschland, das ist seitdem ziemlich in die Mitte der Gesellschaft gerückt.

Gab es im Vorfeld die Überlegung, wie Michael Moore eine übergreifende Identifikationsfigur zu liefern?

Zunächst schon. Ich habe aber schnell festgestellt, dass ich dazu überhaupt kein Talent habe. Deswegen blieb von Anfang an der Vorsatz, keinen erklärenden Kommentar zu liefern, sondern die Geschichte einfach sich selbst erzählen zu lassen. Wir wollten uns auf vier Bereiche des öffentlichen Sektors konzentrieren: Bildung, Gesundheit, Energie und öffentlicher Verkehr. Ich habe nach Fallbeispielen gesucht, die 2003 noch gar nicht so einfach zu finden waren.

Ein Vorteil von Moores Methode ist ja die Konfrontation von Opfern und Verantwortlichen, was beim Zuschauer die Reaktion auslöst: »Ha, dem zeigen wir´s jetzt mal …«

Bei meiner Arbeit für »Monitor« habe ich oft so gearbeitet – auf einen Lacher hin, eben konfrontativ. Das habe ich von vorneherein ausgeschlossen. Mir ging es um einen dokumentarischen Ansatz, möglichst ausgewogenes Material zu präsentieren und dem Zuschauer die freie Wahl zu lassen. Das scheint mir die ehrlichste Art zu sein. Unsere Idee war, nur zu beobachten, nicht zu inszenieren.

Warum fiel die Entscheidung, einen Kinofilm zu machen und eben nicht für den WDR eine Dokumentation? Was kann ein Kinofilm leisten, was das Fernsehen nicht leisten kann?

Man mus erst mal feststellen, dass auch eine WDR-Doku mit wenig Quote mehr Zuschauer hat als so mancher Kinofilm – aber die läuft eben nur einmal. Im Kino hingegen ist die Aufmerksamkeit deutlich größer, ein Film bekommt da ein Eigenleben. Ich denke, ein Kino­film ist besonders für politische Themen gut geeignet.

Wie schätzen Sie generell die Bedeutung von Dokumentationen im Kino momentan ein?

Ich glaube, es gibt grundsätzliche Unterschiede zwischen den USA und Europa, was den Dokumentarfilm angeht. Amerikaner mögen den Rundumschlag, den Vorlesungs-Charakter. Es gibt dort eben nicht das starke öffentlich-rechtliche Fernsehen, das überhaupt noch Dokumentationen bringt. Daher der Wunsch nach Lehrstunden. Das ist in Europa grundsätzlich anders. Momentan wird viel von Boom geredet, doch wir hatten es nicht leicht, einen Verleih zu finden. Ich glaube, die Branche guckt jetzt, wie unser Film sich zuschauermäßig schlägt. Die Dokumentation über die Globalisierung der Nahrungsmittelindustrie »We Feed the World« hatte etwa 350.000 Zuschauer, der Film von Naomi Klein über den Widerstand gegen Fabrikschließungen in Argentinien hingegen nur 1.000 Zuschauer. Ein Desaster! So breit ist die Spanne. Ich denke, der Erfolg von »Der große Ausverkauf« wird darüber entscheiden, wie es weitergeht in Deutschland mit dem politischen Dokumentarfilm im Kino.

Florian Opitz
Florian Opitz wurde 1973 in Saarbrücken geboren. Er studierte Geschichte, Psychologie und Anglistik in Heidelberg und Köln. Seit 1998 arbeitet er frei­beruflich u.a. für WDR, ZDF und Arte. Er hat TV-Dokumentationen über Naomi Klein, Charles de Gaulle, Jack Kerouac, die Geschichte der Skinhead-Bewegung gemacht und sich immer wieder mit Fragen der Globalisierung beschäftigt. »Der große Ausverkauf« ist sein Kinodebüt.

Der große Ausverkauf.
D 07, R: Florian Opitz. Start: 17.5.