Regisseur Milo Rau will eine bessere Welt für alle, Foto: Thomas Mueller

»NGOs sind ein Lifestyle-Hobby für Westler«

Die Pluriversale bringt Milo Raus »Mitleid. Die Geschichte des Maschinen­gewehrs« ans Schauspiel Köln

»Der Planet kann sich unser lauwarmes Mitgefühl nicht mehr leisten«, sagt Milo Rau, eine winzige Raucherpause vor der Berliner Schaubühne, ein Gespräch am Rande seiner dreitägigen »General Assembly«. Eines seiner größten je realisierten Projekte ist nichts weniger als die Inszenierung eines fiktiven Weltparlaments zur Demokratisierung des globalisierten Kapitalismus, mit rund hundert Aktivisten, Politikern, Betroffenen aus der ganzen Welt. Gerade kam es zum Eklat: Tugrul Selmanoğlu, AKP-Mitglied und Erdogan-Anhänger, hat den Genozid an den Armeniern geleugnet, der Saal tobte, man warf ihn hinaus — Selmanoğlu sprach von Meinungsdiktatur. Der Moment kondensierte die gegenwärtige Ratlosigkeit: Wie sollen Demokratien mit Gegnern umgehen, die ihre Mittel infiltrieren? In die Tumulte hinein hat Milo Rau eine halbe Stun-de Bedenkzeit erbeten. Sel-manoğlu wird wieder zur Teil-nah--me eingeladen — und schließlich, ein jämmerlicher Anblick, von selber gehen. 

 

Es gibt kaum einen, der es so ernst meint mit der Weltverbesserung wie der in Köln lebende Künstler, Autor, Aktivist Milo Rau mit Schweizer Wurzeln, gerade von der Zeit als »einflussreichster Regisseur des Kontinents« betitelt. Bald wird er nur noch an den Wochenenden in Köln bei der Familie sein: ab 2018 wird er das Theater im niederländischen Gent leiten. Gerade ist von ihm der großartige Dokumentarfilm »Kongo Tribunal« in die Kinos gekommen. Rau zeigt darin, wie er im Ost-Kongo, seit Jahrzehnten ein Ort von Rebellenkriegen und Rohstoffausbeutung, Massakern und Missbrauch, einen symbolischen Prozess um drei reale Verbrechen organisierte. Wie echte Anwälte und Zeugen, vom Minenschürfer bis zum Konzernvertreter, erstmals gemeinsam in einem Saal saßen, um über Gräueltaten im laut Amnesty International gefährlichsten Land der Welt zu urteilen. Erstmals wurde dort eine Ahnung von Gerechtigkeit praktiziert. Dass alles nur inszeniert war, störte letztlich niemanden. Das Echo im Kongo war gewaltig: Mittlerweile kursieren tausendfache Kopien des Films, die Besucherzahlen sprengten alle Erwartungen, im Land entstehen kleine, selbstermächtigte zivile Gerichtseinheiten. Rau hat kürzlich einen Unterstützungsverein dafür gegründet.

 

Milo Raus Inszenierung »Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs«, das jetzt auf der Pluriversale, dem Festival der Kölner Akademie der Künste der Welt zu sehen sein wird, wirkt wie eine verstörende Vorarbeit zu seinen zwei größten utopischen Projekten der letzten zwei Jahre. Der Abend ist eine Abrechnung mit der Mitleidsindustrie und dem »zynischen Humanismus«, den Rau für die dominierende europäische Lebensphilosophie hält. Mitten in einem Haufen Müll spielt da die Schauspielerin Ursina Lardi sich selbst, als Spiegel von jedem von uns und zugleich als unerträglich zynische und rassistische Schauspielerin. Sie erzählt, wie sie in den Kongo zurückkehrt, wo sie einst für eine NGO gearbeitet hat. Aber sie hat es ja auch selber so schwer — wohl genährt und gut gekleidet ruft sie klagend nach ihrer Yoga-Matte. Mitleid haben soll man mit ihr, die ihre besten Jahre ja auch schon hinter sich hat. Wie eine Rechtspopulistin verdreht Ursina Lardi den Mitleidsdiskurs und hält ungerührt das Foto des ertrunkenen syrischen Flüchtlingsjungen hoch. Um sich zugleich über die Hipsterhaftigkeit von jungen Syrern auszulassen.

 

Auch die echte Ursina Lardi war einst als Entwicklungshelferin tätig, Rolle und Figur verschwimmen gekonnt, das  macht das Stück zu einer Auseinandersetzung darüber, inwiefern das westliche Theater selbst an der wohlfeilen Mitleids-industrie teilhat. Gerahmt wird der Abend von einer Aufzeichnung der burundischen Schauspielerin Consolate Siperius, die als Kind mit ansehen musste, wie ihre Eltern ermordet wurde und daran erinnert, wie weit die Perspektiven auseinanderliegen in der Geburtslotterie der Welt.

 

Dabei glaubt Milo Rau nicht per se, dass NGOs etwas Schlechtes sind. Wogegen er sich wende, sei die Tatsache, dass neunzig Prozent der Entwicklungsgelder in westlich dominierte Infrastrukturen gingen, in weiße Bunker-Anlagen, SUVs, Begleitschutz. »Die meisten NGOs sind ein kurzzeitiges Lifestyle-Hobby für Westler, sie erreichen die Menschen vor Ort nicht und beziehen sie kaum mit ein. Wenn man nur fünf Prozent der Gelder sinnvoll in Institutionen vor Ort investieren würde, die von Leuten vor Ort geleitet würden, sähe es anders aus«, sagt er. Viel wichtiger seien daher Hingabe und Nachhaltigkeit — wie bei Menschen, die wie die Jesuiten Jahrzehnte vor Ort blieben. Das sei auch das Problem von UNO-Truppen. »Dort sitzen 40.000 pa-kistanische Söldner, die gar kein Interesse daran haben, im Kongo ihr Leben zu verlieren«, sagt er. 

 

Was also soll man als privilegierter Europäer tun, wenn man keine Tribunale und Weltparlamente ins Leben rufen kann? »Die einzige Lösung ist die Ausweitung des Blickwinkels und dessen Politisierung«, ist Rau überzeugt. »Wenn Mitleid nicht zu politischen Aktionen führt, wird es schädlich.« Die Zeiten, in denen Künstler nur »Fragen stellten und keine Antworten gaben« — für ihn sind sie endgültig vorbei. Bei aller Kritik, die diese Haltung Rau als weißem, privilegierten, männlichen Künstler immer wieder einbringt: Die Kon-sequenz, Intelligenz und Kraft seiner Interventionen machen ihn zu einem der überzeugendsten künstlerischen Aktivisten, den Europa gerade zu bieten hat. Zeit zum Mitmachen. 

 

»Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs«, A.+ R.: Milo Rau, 2.12., Depot 2, 20 Uhr, anschließend Publikumsgespräch»The Civil Wars«, A. + R. Milo Rau, 21. / 22.12., Depot 2, 19.30 Uhr