Fürze in der Marken-Welt

»Kinderlebensmittel« haben zu viel Zucker, Fett und Salz. Die Lebensmittelbranche nimmt in Kauf, dass immer mehr Kinder krank werden

Elsa und Anna scheinen sich ausgewogen zu ernähren. Sie bräuchten eher was auf die Rippen. Die Disney-Eisprinzessinnen wirken sympathisch belanglos. Kinder vertrauen ihnen. Elsa und Anna sind eine Art fiktionale Influencer: Von Cornflakes- und Süßigkeitenpackungen blicken sie mit großen Augen die Kinder an. Das reicht, um die Kundschaft zu überzeugen. Die Eisprinzessinnen sind gut, dann sind es die Cornflakes ja wohl auch. Doch Elsa und Anna haben einen Nebenjob: Sie sind Zucker- und Fett-Dealer, sie fixen Kinder an. Das tun Comicfiguren, aber auch echte Menschen. Sportstars etwa, die mit athletischem Körper für Cola oder Fastfood werben. Werbung mit Sympathieträgern ist eine Variante des Kindermarketings im Lebensmittelbereich, und sie verfängt: Jedes sechste Kind von 11 bis 17 Jahren ist heute übergewichtig oder adipös. Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes sind oft die Folgen. 2008 warnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor Reklame für ungesunde Lebensmittel. Sie präge  frühzeitig schädliches Essverhalten. Genau das aber ist der Zweck von Kindermarketing: möglichst Kinder ab drei Jahren an Marken binden. Das gelingt über Vertrauenspersonen und Vorbilder, seien es nun Sportler oder Zeichentrick-Helden. Und das gelingt durch ein immer gleich grundiertes Geschmacksbild. Evolutionsbiologisch sind wir noch auf Süßes und Fett ausgerichtet, weil diese Stoffe schnelle Energie versprechen. Doch heutzutage mangelt es uns nicht Kalorien. Sondern an Aufklärung. Wir essen zu viel und werden krank.

 

Die WHO empfiehlt Erwachsenen täglich 50 Gramm Zucker, Kindern höchstens 25 Gramm. Doch fast 90 Gramm Zucker werden täglich pro Person in Deutschland aufgenommen — rund 80 Prozent aller Lebensmittel eines Supermarkts ist Zucker zugesetzt. Eine Flasche konventioneller Orangensaft, der als gesund beworben wird, enthält ähnlich viel Zucker wie Cola. Durch Werbung für diese Produkte entsteht auch volkswirtschaftlicher Schaden durch die medizinische Behandlung der Folgen. Das schreckt Krankenkassen auf. Ende Juni organisierte die AOK einen »Zuckerreduktionsgipfel« in Berlin. Die Deutsche Diabetes-Gesellschaft und der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte unterstützen die Kampagne. Sie fordern eine bessere Kennzeichnung von Inhaltsstoffen. Nur knapp die Hälfte der Verbraucher verstehe die Nährwertangaben auf Lebensmittelpackungen. Eine allgemeinverständliche »Lebensmittel-Ampel« aber, die farblich anzeigt, ob der Gehalt von Zucker, Fett und Salz niedrig, akzeptabel oder zu hoch ist, scheitert in Deutschland an der Lobby der Lebensmittelindustrie. Laut einer Untersuchung der AOK kommen Kinder täglich bis zu 22-mal mit Werbung für ungesunde Lebensmittel in Kontakt. Wer so früh auf süß, salzig und starke künstliche Aromen abgerichtet wird, empfindet alles als laff, was hinter diese gustatorischen Extreme zurückfällt. Wer sich als Kind an -dieses Geschmacksbild gewöhnt, wird kaum zu einer abwechslungsreichen Ernährung finden. Der Geschmackssinn verkümmert, bevor er sich voll entwickeln kann. Das entspricht dem, was man sonst strukturelle Gewalt nennt.

 

Zwar haben sich Lebensmittelkonzerne 2007 in einer »EU-Pledge« verpflichtet, Werbung für Lebensmittel, die unausgewogen sind, nicht an Kinder unter zwölf Jahre zu richten. Allerdings folgen die Unterzeichner nicht den Nährwert-Empfehlungen der WHO, sondern selbst gesetzten, die viel lascher sind. Die Selbstbeschränkung bezieht sich zudem nicht auf Verpackungen, Marketing-Aktionen in Läden und Sponsoring. Vor zwei Jahren wies der Verbraucherschutz-Verein Foodwatch nach, dass 90 Prozent der Produkte nicht den WHO-Maßstäben für ausgewogene Lebensmittel entsprechen. Foodwatch fordert, dass sich Werbung dafür nur an Menschen ab 16 Jahren richten darf. Außerdem sollen schlechte Lebensmittel besteuert und eine Nährwert-Ampel auf Packungen eingeführt werden.

 

Doch würde das ausreichen? In der Kita lernen Kinder, wie Krankenhäuser oder die Feuerwehr organisiert sind — aber nicht, wie Werbung sie beeinflussen will. Umgekehrt gibt es aber Versuche der Lebensmittelkonzerne, eigenes Lehrmaterial an Erzieherinnen und Lehrer zu verteilen. Darin wird für gesunde Ernährung geworben — mit Marken-Logo von schlechten Lebensmitteln. 

 

Kinder und Jugendliche sollen sich intensiv mit der Marke auseinandersetzen: Das geschieht über Gewinnspiele, Beigabe von Spielzeug oder die Aufforderung, sich mit dem Produkt fotografieren zu lassen und das Foto einzureichen. Online werden ganze »Marken-Welten« für Kinder geschaffen, in denen sie möglichst lange verweilen sollen. »Capri-Sun« bietet Bastelanleitungen an: Aus dem Verpackungsmaterial der Zucker-Limo kann man sich ein »Capri-Sun Furzkissen« bauen.

 

Auch das Sponsoring sozialer Projekten ist attraktiv für die Lebensmittelkonzerne, um ihre wahren Absichten zu verschleiern. Der Zuckerlimo-Produzent Fanta initiert mit dem Deutschen Kinderhilfswerk eine Spielplatz-Initiative. Coca Cola und McDonald’s, deren Produkte extrem fettig und zuckerhaltig sind, treten als Partner großer Sport-Events auf. So erreichen sie viele Kinder und können ihre ungesunden Produkte mit einem sportlich-agilen Image adeln. Doch nicht ihre Produkte machten krank, sagen die Konzerne, sondern zu wenig Bewegung. Zwar gibt es Studien, laut denen Kinder sich weniger bewegen als noch vor zwanzig Jahren. Aber selbst bei mehr Bewegung könnten die Kalorien, die Kinder durch Kinderlebensmittel aufnehmen, kaum abgebaut werden. »Um ein einziges BigMac-Menü abzutrainieren, muss man schon einen Halbmarathon laufen«, so Graham MacGregor, Professor des Londoner Wolfson-Institut und Initiator der britischen Anti-Zucker-Kampagne »Action on Sugar«. Es benötigte wohl viel Action gegen Zucker. Denn was die Werbung nicht schafft, schaffen Erziehungsberechtigte. Von vielen Eltern, aber auch in Kindergärten, bekommen Kinder Süßigkeiten zur Belohnung oder wenn sie sich wehtun. Die Produkte werden emotional besetzt: Sie spenden Zuneigung, Anerkennung und Trost. Das erhöht ihre Attraktivität. Kurioses geschieht: Billige, schlechte Indus-trienahrung bekommt das Image eines Luxusprodukts. 

 

Text: Bernd Wilberg

 

 

 

 

»Das ist hier wie beim Arzt«

 

Ute Quandt arbeitet seit 28 Jahren bei Kaufhof in der Spielwarenabteilung. Sie spricht über nervenschwache Eltern, Tumulte vor den Regalen und die Tricks der Werbung

 

 

Frau Quandt, wie oft sehen Sie Tränen, weil ein Kind nicht bekommt, was es sich wünscht?

 


Selten. Wenn die Kinder herkommen, wissen sie meist genau, was sie wollen. Sie sind ja heute sehr selbstbewusst und haben eine ganz andere Erwartungshaltung als früher. Meist bekommen sie, was sie sich wünschen — und wissen entsprechend auch, was später unterm Weihnachtsbaum liegt. Der Überraschungseffekt ist weg.

 

Welche Spielzeuge sind gerade angesagt bei den Kindern?

 


Die großen Marken haben jedes Jahr etwas Neues, das wahnsinnig gefragt ist. Die Werbung wirkt. Wenn Sie Pferde eines bestimmten Spielzeugherstellers in der Fernsehwerbung sehen, wissen Sie, dass das am nächsten Tag hier gekauft wird. 

So einfach ist das?

 

Ja, und dann tun die Kinder mir oft leid, denn in der Werbung sieht es so aus, als könnten die Pferde laufen, aber das tun sie natürlich nicht. Auch die Farben sehen in der Realität ganz anders aus als in der Werbung. Die Kinder lassen sich täuschen.

 

Alle Artikel sind getrennt nach Mädchen und Jungen?

 


Das ist tatsächlich so. Wir haben die Jungen-, die Mädchen- und die Kreativecke.

 

Und die Kreativecke ist für beide?

 

Nein, die ist für Mädchen. Gut, es gibt auch Jungs, die basteln, aber das sind die wenigsten. Ist eigentlich schade. Ich finde es immer toll, wenn mal ein Junge kommt und eine Puppe haben will. Diese extreme Pink-Welle bei den Mädchen, getrenntes Geschenkpapier für Jungen und Mädchen, das haben wir erst seit einigen Jahren. 

 

Wann beginnen die Menschen mit den Weihnachtseinkäufen?

 


Im November geht es langsam los, ab Dezember kommen wir kaum zum Atmen. Oft sind Sachen dann ausverkauft, wofür wir aber nichts können, und je mehr es auf Weihnachten zugeht, desto nervöser werden die Leute. Die stehen dann vor mir und sagen: Sie haben das nicht? Das Kind hat sich das aber gewünscht, was lege ich ihm jetzt unter den Weihnachtsbaum? 

 

Wie erleben Sie einen Samstag in der Vorweihnachtszeit?

 


Stellen Sie sich vor, es laufen hundert Menschen um Sie herum, alle rufen: Hallo, Entschuldigung! Ich sage dann: Das ist hier wie beim Arzt, man muss ein bisschen warten, aber Sie sind gleich dran! Mir hilft die jahrelange Erfahrung. Aber wenn ich abends nach Hause kommen, will ich nur noch meine Ruhe haben. 

 

Mögen Sie die Adventszeit?


Oder können Sie keine Weihnachtslieder mehr hören?

 

Doch, ich backe Plätzchen, mache Kerzen an. Aber die Entspannung beginnt erst an den Feiertagen, die genieße ich. Nach Weihnachten geht’s nämlich direkt wieder los mit dem Umtausch, und dann sind schon die Karnevalsartikel dran, da geht’s hier erst richtig rund! Der Tag vor Weiberfastnacht ist noch stressiger als der vor Heiligabend.

 

Interview: Anne Meyer