Unterwegs als Clarice Starling

Zu Besuch bei Josh Cheon, dem Postpunk-

Goldgräber von Dark Entries Records

»Es kommt mir zugute, dass ich Psychologie studiert habe«, ge-währt mir Josh Cheon einen tiefen Einblick in den Arbeitsalltag seines Labels Dark Entries Records, mit dem er sich auf die Wiederveröffentlichung von Postpunk-, Indus-trial-, Disco- und Wave-Raritäten spezialisiert hat. Oft genug haben die von ihm kontaktierten MusikerInnen selbst schon längst vergessen, dass sie einst Musik produziert haben und leben bereits seit Jahrzehnten ein normales bürgerliches Leben mit Familie und 9-to-5-Job, wenn das Telefon bei ihnen klingelt, nachdem Cheon sie nach langer Recherche ausfindig gemacht hat. »Ich bringe viele Erinnerungen an emotional nicht immer so ein-fa-che Momente wieder hoch«, be--richtet er. »Da kommt es schon mal vor, dass wir gemeinsam heulen.« 

 

San Francisco. Wir haben uns zum Gespräch im Büro von Dark Entries getroffen, das genaugenommen ein fensterloser Lagerraum hinter dem Plattenladen RS94109 im Tenderloin-Viertel ist, und so wandert mein Blick die Regale entlang, ganz so, als ob bereits die Cover der Platten von Tranceonic, Savage Hymn oder Lives of Angeles mir all die Geschichten dahinter verraten könnten. Die ganz großen Dramen seien aber die Seltenheit, merkt Cheon plötzlich an. Viel öfter wird dem Mitdreißiger schlichtweg skeptisch erwidert, ob er sich denn nicht verwählt habe, es könne doch nicht sein, dass sich nach all den Jahren wirklich noch jemand für die Musik interessiere.

 

Im besten Falle geht es dann schnell und man einigt sich auf ein Entstauben der Bänder. Und wenn nicht, dann ruft Cheon eben noch ein paar mal an — er sei aus Leidenschaft hartnäckig, gibt er zu ver-ste-hen, und zudem Berufsoptimist —, dann erscheint die Platte eben erst nach fünf Jahren, wie beispielsweise bei der Australischen Postpunk/Synthpop Band Severed Heads. Zeitdruck kenne er nicht, zumal zwischendurch auch immer wieder Alben von aktuell aktiven MusikerInnen anstehen, wie beispielsweise von Helena Hauff und The Hacker, die zuletzt auf Dark Entries veröffentlichten. 

 

Aber zurück zum Psychologie-Studium von Cheon, die Ge-schich-te dahinter ist einfach zu gut, um sie nicht zu hören: »Ich war als Teenager geradezu besessen von ›Das Schweigen der Lämmer‹. Das ging soweit, dass ich die Dialoge tran-skri-biert und mit Freunden den Film nachgespielt habe. Die von Jodie Foster gespielte FBI-Agentin Clarice Starling war eine Verhal-tenswissen-schaftlerin, also dachte ich mir, wenn das einen dazu be-fähigt, mit Hannibal Lector zu sprechen, dann will ich das auch werden.« Nun, das draus resultierende Studium der Bio-logie und Psychologie soll nicht zum Nachteil für Cheon gewesen sein.

 

Denn auch wenn er schnell den Ablenkungen der Musikwelt erlag (Campus-Radio, Praktika bei Plattenlabels wie DFA und 4AD) und mehr Zeit mit Platten als in den Vorlesungen verbrachte, absolvier-te hat er es dennoch erfolgreich und arbeitet bis heute die Hälfte der Woche im Labor. »Das ist zwar stressig«, führt er aus, »aber ich nehme so den ökonomischen Druck vom Label, da meine Miete über den Job gesichert ist. Amerika ist aktuell in keinem guten Zustand, da fühlt es sich nicht falsch an, wenn man eine Kranken- und Rentenversicherungen hat.« Zumal die Arbeit im Labor meditativ sei und er während dieser viel über aktuelle Produktionen nachdenken könne.

 

Der Stress, den Cheon anspricht, kommt besonders daher, dass im letzten Jahr, bedingt durch die stetig steigende Wahrnehmung von Dark Entries, auch seine DJ-Karriere angezogen hat. Während er bis dahin mehr oder weniger zum Spaß als Teil des Honey Soundsystems und hauptsächlich in San Francisco auflegte, fliegt er nun regelmäßig um die Welt. In der Woche nach meinem Besuch zum Beispiel nach Amsterdam, für mehrere Sets im Rahmen des ADE-Festival und im Anschluss weiter nach London, Berlin, Barcelona, Lissabon ... »Da ich eine wichtige Deadline im Labor habe, werde ich wohl unterwegs noch ein paar Auswertungen ma--chen müssen«, lacht er, aber das kommt halt davon, dass er partour nicht auf die Worte von Jonathan Galkin  und James Murphy habe hören wollen, die beiden DFA-Labelmacher hatten ihn eindringlichst davor gewarnt, ein Label zu starten und ihm zur Wissenschaftskarriere geraten. 

 

Cheon ist ein geradezu vorbildlicher Akteur auf einem Terrain, wo es an schwarzen Schafen nicht mangelt. Im Gegensatz zu diversen Kollegen auf dem Feld der Wiederveröffentlichungen hält er den Markt nicht künstlich knapp, sondern presst seine Platten immer und oft genug zum eigenen ökonomischen Nachteil nach, so dass sie eben nicht auf Discogs oder Ebay zu absonderlich hohen Preisen gehandelt werden. »Wenn sich ein Label keine angemessen hohe Auflage leisten kann, ist es was anderes, aber generell find ich es nicht fair, wenn man eine rare fininische Tape-Veröffentlichung lediglich in einer 250er-Auflage presst, obwohl man weiß, dass diese sofort weg geht und die Platte dann für 40 Dollar oder mehr gehandelt wird.« 

 

Zum Schluss unseres Gesprächs möchte ich wissen, ob er sich denn in der Rolle des Umdeuters von Geschichte gefalle? Josh Cheon schaut mich zunächst irritiert an, dann winkt er heftig ab: »Nein, nein — das klingt mir zu sehr nach Heldenepos!« Allerdings freue es ihn natürlich schon, wenn eine Band durch seine Arbeit zum ersten Mal wirklich Feedback zu ihrer Musik bekomme und plötzlich in regen Austauschprozessen mit Fans steht oder gar, wie sehr oft im Roster von Dark Entries der Fall, wieder zusammenfindet und auf Tour geht. Da sei er auch nicht ganz uneigennützig, schließlich habe er selbst Bands wie Severed Heads, Europa, Jeff and Jane Huson, Parade Ground und The Danse Society damals auch noch nicht sehen können. Wobei er anmerkt, dass nicht alle ihre alten, von ihm wieder aufgelegten Stücken dann spielen wollen, sondern lieber neues Material. Aber das ist ja auch ihr gutes Recht. 

 

 

darkentriesrecords.com
soundcloud.com/darkentriesrecords