Am digitalen Hochzeitstisch

Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 191

Das Geschenk ist zum Problem geworden, nicht erst seit es auf Heiligabend geht. Das Geschenk als Geschenk ist im Verschwinden begriffen. Dinge werden gekauft, mehr als zuvor. Aber es ist nur ein Austausch von Waren. Sogar das Verpacken — letzter Rest persön-lichen Aufwands und der Möglichkeit, zu scheitern — besorgt die Kassiererin im Kaufhaus. Das Geschenk birgt keine Gefahren mehr, immer passt alles. Wer bekäme jemals noch von der Großmutter warme Socken unter den Baum gelegt? Wer eine kitschige Rokoko-Statuette für den Setzkasten? 

 

Es gibt neue Aufgaben. Gesine Stabroth tritt in der Rolle der Geschenkevermittlerin auf. Es ist ein Ehrenamt. Und wie so oft beim Ehrenamt trägt die Amtsführung bevormundende Züge. Gesine Stabroths »beste Freundin Tine« hat Geburtstag. Ich bin eingeladen, sie will mich bestrafen. Gesine Stabroth schickt mir eine E-Mail mit »Geschenkideen«, die sie eilfertig mit Bestellnummer und Links auf Online-Shops versieht. Die Freischärler des Agentur-wesens besetzen die Brückenköpfe des geselligen Miteinanders! Ich lösche die E-Mail! Ich fische sie wider aus dem Papierkorb. Nur, um sie noch mal zu löschen. So wütend bin ich. Von wegen! Tine kriegt Pralinen! Ich werde eine Konfiserie suchen, ein Samstagvormittag in der Fußgängerzone ist meine Form des Widerstands gegen die Zumutungen des Zeitgeists. 

 

Die Spießertum haust aber in allen Epochen. Früher gab es »Hochzeitstische« in Kaufhäusern. Darauf waren Geschenke arrangiert, die sich das Brautpaar ausgesucht hatte, und die von den Hochzeitsgästen gekauft werden sollten. Es ist schwierig, sich Trost-loseres vorzustellen. Die moderne Form dieser Spießigkeit sind E-Mails mit Geschenkideen. Immer weiß heute der zu Beschenkende, was er bekommen wird, er legt es sogar fest. Das Geschenk ist nur noch ein Tribut. Die letzte Konsequenz ist das Geldgeschenk oder der Gutschein. Und nur Menschen, die so kalkulieren, können darin übereinkommen, sich nichts zu schenken. So wie Katrin und Carsten. »Wir schenken uns nichts zu Weihnachten«, sagen sie. Katrin und Carsten wähnen sich konsumkritisch und rechnen doch in den Kategorien, die sie abzulehnen meinen: Wenn ich einen bestimmten Geldbetrag ausgebe, um dir etwas zu schenken und du wiederum desgleichen tust, dann können wir es auch sein lassen. So kontaminiert der Kult des Tauschens die Idee des Schenkens. Daher glauben wir auch, wir bräuchten nur dann ein Geburtstagsgeschenk zu machen, wenn wir zu den Gästen der Feier gehören: zwei Teller Nudel-salat und sechs Flaschen Bier gegen eine Konzertkarte. 

 

Womöglich ist nichts, was wir tun, frei von Eigennutz. Aber ich will pessimistisch sein, sondern stattdessen so tun und so denken, als ob es doch so wäre. Wir brauchen mehr Konjunktiv II. Wir brauchen auch mehr Geschenke, und zwar à fonds perdu.

 

Ich hatte nicht die mindeste Lust auf den Geburtstag von Gesine Stabroths »bester Freundin Tine«. Ich würde mich unter einem Vorwand entschuldigen lassen; es gibt die zivilisierte Lüge. Besser als wenn ich hinginge und nach zwei Tellern Nudelsalat und sechs Flaschen Bier mit gelöster Zunge Unbedachtes äußerte. Das Geschenk sollte es trotzdem geben. Doch wie zu erwarten, fand ich keine akzeptablen Pralinen in der Fußgängerzone. Bloß billige Schokoladen-tafeln. Ich kaufte eine und drapierte einen Geldschein darauf. So macht es Oma Porz. Sie hat zu viel Wasser in den Beinen, um sich im Einzelhandel umzuschauen. Sie hat zu wenig Computer in der Wohnung, um durch Online-Shops zu bummeln. Und es ist nur eine Legende, das Großmütter Schals häkeln. Ach, schenkte mir doch jemand eine kitschige Rokoko-Statuette, damit ich vor Rührung weinen könnte.