The Woman Who Left

Lav Diaz begnügt sich in seinem Venedig-­Gewinner mit knappen dreieinviertel Stunden

Eigentlich wollte Lav Diaz Schriftsteller werden, aus Verehrung für die russischen Epiker des 19. Jahrhunderts. Es sind daher auch Romane wie Fjodor Dostojewskis »Die Dämonen« (1872) oder Lew Tolstois »Anna Karenina« (1878), mit denen sich am besten die Weite, Wucht und Komplexität, schlicht: der Atem beschwören lässt von vielstündigen Werken wie » Evolution of a Filipino Family« (2004), »Death in the Land of Encantos« (2007) oder »A Lullaby to the Sorrowful Mystery« (2016). »The Woman Who Left«, mit dreieinviertel Stunden vergleichsweise kurz für Diaz, basiert sogar lose auf Tolstois »Ein Verbannter« (1872). Allerdings beginnt die Parabel über Gnade und Vergebung des Philippinen dort, wo die des Russen endet: mit einem Freispruch.

 

Horacia Somorostro sitzt jahrzehntelang im Gefängnis für einen Mord, den sie nicht begangen hat. Die wahre Täterin lebt lange dort an ihrer Seite — und schweigt. Eines Tages zerbricht etwas in der Frau, sie gesteht, nur um gleich darauf den Freitod zu suchen. Horacia ist nun frei — und einer Welt ausgesetzt, die sie nicht mehr versteht. Ganz abgesehen davon, hat sie ihre Familie verloren: Der Gatte ist tot, der Sohn unauffindbar. Horacia weiß, wer ihr aus dem Hintergrund heraus so viele Jahre genommen hat: Rodrigo, ihr ehemaliger Liebhaber, Sproß aus reichem Hause, mittlerweile sicher noch viel reicher und immer noch so kriminell wie einst.
Dieser Mann soll nun sterben, von ihrer Hand — nur: Hat sie diesen Gewaltakt in sich? Und wie geht man damit um, wenn sich andere Menschen diesen scheinbar privaten Hass zu Eigen machen? Denn bald ist Horacia nicht mehr allein: Während sie Rodrigos festungsgleiche Villa aus dem naheliegenden Slum heraus beobachtet, bekommt sie einige neue Freunde.

 

Gestalterisch ist »The Woman Who Left« typisch für Diaz: Er besteht aus geduldig beobachteten, ausgespielten Szenen in Schwarzweiß, aus viel Stille, Windstrom, aus wunderbar komplex entwickelten Dialogen. Es gibt aber auch einige exquisit surreale Momenten gegen Ende. Vielleicht ist »The Woman Who Left« zugänglicher als der Rest von Diaz’ Schaffen. Er besitzt eine vergleichsweise novellengleiche Kompaktheit und klare Struktur, die frei ist von allen Zeit- und Realitätsebenen-Verschiebungen sowie (selbst)reflexiven Meta-Momenten, die seinen Werken ihre ungeheure Komplexität verdanken. Das heißt: »The Woman Who Left« ist ein hervorragender Einstieg in das weltkulturell bedeutendste Filmwerk der letzten Dekaden.