»Jeder kann zum Schlächter werden«

Robert Schwentke über seinen verstörenden Weltkriegs-

Film »Der Hauptmann und die dünne Haut der Zivilisation«

Ihr Film erzählt die wahre Geschichte des Gefreiten Willi Herold, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die Uniform eines Hauptmanns findet und in dieser Rolle schwere Kriegsverbrechen unter anderem in einem Gefangenenlager begeht. Was stand für Sie am Anfang des Projekts?

 


Ein Freund von mir ist Kriegsberichterstatter und war unter anderem in Sarajevo; der hat mir von Gräueltaten erzählt. Ungefähr zur selben Zeit fand auch die erste Wehrmachtsaustellung statt. Das alles hat mich sehr nachdenklich gemacht, und auch sehr neugierig: Ich wollte mich diesen Fragen stellen, daraus einen Film über die Dynamik der Gewalt im Krieg machen, damit auch einen Film über Täter und nicht über Opfer. Ich wollte von Menschen sprechen wie Karl Jäger, der nach seinem ersten Massaker an den litauischen Juden abends noch von Gewissensbissen, Ekel und Angstzuständen geplagt wird, wie er in seinem Tagebuch schreibt — am nächsten Morgen aber weitermacht. Klar war von Anfang an, dass es ein Film über den Zweiten Weltkrieg werden sollte, wie man ihn in der Geschichte des BRD-Kinos bislang nicht findet. Es gibt ja kaum Filme über Täter. Auf Herold bin ich erst bei meinen Recherchen gestoßen: einen Gefreiten, selbst ein Gejagter, dessen Geschichte aber ihren Weg bis in die Generalität findet. Herold, seine Bande, aber auch die Feldgendarmerie sind Unterbau; die Lagerleitung und der Ortskommandant sind Mittelbau; das Militärgericht, das ihn dann bedingt freispricht, weil man Kerle wie ihn braucht, ist Oberbau. Die Struktur wird sichtbar.

 

 

Warum haben Sie sich gegen eine Psychologisierung der Figuren entschieden?

 


Wenn mir eins bei der Vorbereitung des Films klar geworden ist, dann das: Die Membran zwischen Chaos und Zivilisation ist extrem dünn. »Warum tut jemand so was?«, ist meines Erachtens die falsche Frage — Kindheit, Lebenslauf etc. spielen keine große Rolle, jeder kann zum Schlächter werden und so ziemlich jeder ist es im Zweite Weltkrieg auch geworden, wenn sich die Situation ergab. Nach allem, was man über Herold weiß, war er ein unauffälliger, durchschnittlicher Typ, den man sich als guten Nachbarn vorstellen kann, der den Kindern Ruß auf die Nase tupfte, als Glücksbringer — und dann Cowboy und Indianer mit scharfer Munition spielte. Psychologie, so wie man sie gemeinhin verwendet, ordnet Menschen Schubladen zu — die man dann schließt. Was, implizit, immer auch »den Fall« abschließt, ihn »bewältigt«, nachkriegsbundesdeutsch gesprochen. Jede Antwort, zu der man auf diesem Weg gelangt, ist simplifizierend. Systemanalyse, ein globaler Blick auf die Menschheit tut not.

 

 

Sie haben einmal gesagt, dass sich die Förderinstanzen nur zögerlich auf das Projekt eingelassen hätten. Warum?

 


Kann ich im Detail nicht sagen. Was mich aber schon erschreckte, war, dass anscheinend einige das Projekt als wehrmachtsbeschmutzend empfanden und es deshalb verhindern wollten — als hätte sich die Wehrmacht nicht selbst beschmutzt! Außerdem fehlte einigen anscheinend die Identifikationsfigur sowie der beruhigende, die Dinge bewältigende und in der Historie zurücklassende Schluss. Wobei es Vorbilder in der deutschen Filmgeschichten gibt für das, was mir vorschwebte, allen voran Fritz Langs »M« (1931), dessen Ende, mit Gründgens als Protofaschist und Lorre als Opfer mehr denn Täter. Diese Art von kognitiver Dissonanz erlaubt es dem Zuschauer, die Strukturen, die er in seinem Kopf findet, zu hinterfragen. Ich wollte einen unversöhnlichen, verstörenden Film, in dem am Ende der Status quo nicht wiederhergestellt wird. Das sollten die Gremien bei der Drehbuchlektüre verstehen, und das haben am Ende auch genug verstanden — sonst gäbe es den Film ja nicht.

 

 

In der überraschenden Abspannsequenz kommen Herold und seiner Horde zu den Einwohnern des heutigen Görlitz. Sie haben das mit dem IS-Einfall in Timbuktu verglichen, warum?

 


In Sarajevo hatte damals die Heeresleitung kleinen Verbrecherbanden erlaubt, die Dörfer zu plündern, die sie einnahmen — eine ideologische Motivierung spielte keine Rolle. Die marschierten ein und sagten: Wir sind ab jetzt das Recht, wir sind Polizei, Richter und Henker in einem. Der IS funktioniert genauso. Das fühlt sich für uns zwar ganz weit weg an, aber wenn man dann an Sarajevo denkt, sieht man, wie nahe das in Wirklichkeit ist. Was da in Timbuktu passierte, kann hier genauso passieren. Wenn man sich dieser Gefahr bewusst ist und sich nichts über die eigene Menschlichkeit vorlügt, dann ist man in der Lage, damit umzugehen. Mir ist wichtig, dass die Leute verstehen, dass am Anfang aller Massaker eine verschärfte Rhetorik steht — erst kommen die brutalen Worte, dann die brutalen Taten. Und im Augenblick ist die Rhetorik in der Bundesrepublik wieder scharf. Das muss man stringenter bekämpfen, das darf sich nicht normalisieren.

 

 

Robert Schwentke

 

Schwentke (*1968) studierte zunächst Philosophie und Literaturwissenschaft in Tübingen, bevor er ein Filmstudium in Los Angeles begann. Mit dem Serienkiller-Film »Tattoo« (2002) gab er sein Filmdebüt in Deutschland. Nach Problemen, seinen dritten Spielfilm hier zu finanzieren, ging er zurück in den USA, wo er u.a. den Thriller »Flightplan« (2005) und die Agentenkomödie »R.E.D.« (2010) drehte. Mit »Der Hauptmann« kehrt er nach Deutschland zurück, der Film hatte Welt-premiere beim Filmfestival von Toronto.