Der Holger-Sound

Die opulent ausgestattete Box »Cinema« feiert den Studiowizzard Holger Czukay

Es sollte doch gar kein Requiem werden! Zum 80. Geburtstag Holger Czukays, den er dieses Jahr am 24. März gefeiert hätte, sollte ihn die in diesen Tagen veröffentlichte 5-LP-Box »Cinema« gebührend feiern. Czukay wurde am 5. September des vergangenen Jahres tot in seinem Studio in Weilerswist aufgefunden. Aber wie ein Requiem will die Werkschau »Cinema« partout nicht klingen, dazu sind seine Stücke zu lustig, zu bunt, in ihrer Verspieltheit lebensbekräftigend. Hineingegriffen in die Auswahl: Seine Dekonstruktion der chinesischen Hymne »Der Osten ist rot« führt uns bis in die Karibik, es wird gestolpert und geschunkelt, die Militärparade fällt nach Einnahme von Halluzinogenen aus. Soll danach niemand mehr sagen, Humor hätte nichts im Pop verloren!

 

Nachdem in den letzten zwanzig Jahren das Gesamtwerk von Can regelrecht ausgewrungen und fast schon totkanonisiert wurde, erwies sich das Solowerk Holger Czukays als große Unbekannte. Wäre der Can-Bassist und genial verschmitzte Soundtüftler Kameramann, er hätte einen Hund weiß angemalt, und auf der Leinwand hätten wir ein Schaf gesehen. -Czukay kam im Studio auf die unverschämtesten Tricks — und sie funktionierten allesamt. Die Phrase — das Studio als erweitertes Musikinstrument neu erfinden — geht auch auf Czukay zurück.

 

Aber was sind zehn Jahre Can gegen ein Solowerk, das mehrere Jahrzehnte umfasst? Sicher, der Sound der Stammband war monolithisch, dagegen wollte Czukay nicht anspielen, er hat ihn umspielt und in seinen Solo-Werken und Kooperationsprojekten listige Strategien der Unterwanderung ent-wickelt. Er wollte nicht zum Denkmal seiner selbst werden. Pop-Geschichte hat er wie nebenbei geschrieben, etwa mit dem Album »Full Circle«, das er mit Jaki Liebezeit und Ex-PIL-Bassist Jah Wobble einspielte: Lupenreiner Dub, der Krautrock und Post-Punk (und diverse Jamaika-Klischees) in ein funkelndes Kaleidoskop verwandelt. Dass das Album roh und wuchtig klingt, liegt wundersamerweise auch an Czukays Waldhorn — first appearance in pop culture (well, almost). Eines der besten Alben der 80er, das David Mancuso in seiner legendären New Yorker Disco Loft rauf und runter spielte!

 

Anfang der 90er Jahre schlurfte Czukay durchs Kwartier Latäng, er soll damals an der Engelbertstraße gewohnt haben, jedenfalls hockte er öfter im Café Fleur. Uns Jungen kam er schon uralt vor, 55 Jahre (da tritt man heutzutage gerade erst ins Erwachsenenalter ein), vielleicht kultivierte er auch bloß den Rentner-Habitus. Tarnung. Verstellung. Funny! Bis Czukay zuschlug und er urplötzlich auf einer Jungle-Party (»Cosmic Orgasm«) auftauchte und sich für die SPEX ein paar Notizen machte, 1993 war das: »Gut zu sehen, wie aus Plattenauflegern Musiker werden, ganz gleich, ob hochkarätig oder sonstwie. Aus einem bis zum Kragen ausgefahrenen Verstärker schlugen mir total verdichtete Upspeed-Soundrhythmen entgegen, dazu ein Submulm-Bass, für dessen Sound ich zu Cans seligen Zeiten von Jaki Liebezeit sicher erschlagen worden wäre. Aber hier passt’s. Dazu eine Sample-Mixtur von Sounds, Stimmen und richtigen Instrumenten, die sogar hier und da Hooklines erkennen ließen. In diese überdrehte Afrika-Lava werden zeitweise auch noch die EQs auf Anschlag gebracht und zwischen zwei Plattenlaufwerken gemixt. Hin und wieder liefen diese sogar ohne Handbetätigung, und eines sogar Vollgas rückwärts. Resultat: ein spitzenmäßiger Overkill-Dancegroove oder besser -Upgroove, total fordernder Sound, nichts von Laid Back.«

 

Dass jemand, der aus einer anderen Zeit, einer anderen Epoche kam und daraus nie einen Hehl machte, so einen unbefangenen, enthusiastischen Zugang zu einer wilden Popkultur (die damals, trotz offensichtlicher Bezüge, ostentativ nichts von Czukays Epoche wissen wollte), war beeindruckend. Noch beeindruckender war seine souveräne Haltung: »Dagegen klingt alles, was ich bisher gemacht habe, eher easy going und viel leichter verdaulich, dafür aber auch gespielter. Noch lass ich mir das nicht nehmen.« Recht so!

 

1997, als aus Jungle schon Drum’n’Bass und daraus bereits die Titelmelodie für die Sportschau geworden war (ein erstaunlicher Abstieg), kam dann erst Czukays knarzig-bröckeliger Kommentar: »Clash« mit Dr. Walker, der stiernackigen Air-Liquide-Wuchtbrumme, das ziemlich ignoriert wurde, weil der Zeitgeist schon auf Minimal Techno gepolt war, was aus heutiger Sicht ziemlich dämlich war (»Clash« ist leider nicht auf »Cinema« vertreten).

 

Seine Interessen waren weit gespannt, so weit gespannt, dass man als Hörer die Übersicht zu verlieren droht, aber das war Absicht. Czukay konnte mit Punks, er hat 1980 S.Y.P.H. produziert und für einen wunderbaren Punk-Krautrock-Merge gesorgt, er konnte mit den Bläck Fööss, mit Brian Eno und Annie Lennox, und wenn man sich fragt, wie das alles zusammengeht, muss man sich tatsächlich nur den Titel der Retrospektive vergegenwärtigen: »Cinema«. Czukay hat filmisch gedacht, sein erstes »richtiges« Soloalbum hieß denn auch konsequent »Movies« (1979). Er hat Klänge inszeniert, ihnen Subjektstatus eingehaucht und sie wie selbstständige Figuren durch seine Storys gejagt, die wir oberflächlich immer noch als Songs wahrnehmen. So war’s und so wird’s nie wieder, wie Kollege Werthschulte zu sagen pflegt. Czukay war ein Solitär, aber es sind offenbar nur die Solitäre, die vermitteln können, wie weit Pop wirklich gehen könnte.

 

Tonträger: »Cinema« erscheint am 23.3. auf CD und LP (Grönland/Rough Trade) und enthält auch die DVD von Czukays Film »Krieg der Töne« (1987).