Vor 2026 fährt hier keine U-Bahn: Einsturzstelle am Waidmarkt, Foto: Dörthe Boxberg

Mit Silikon gegen die Katastrophe

Neun Jahre nach dem Archiveinsturz hat endlich der Strafprozess begonnen. Doch vieles wird unaufgearbeitet bleiben

Das Kölner Landgericht hat extra seinen größten Saal reserviert. Immerhin wird hier der folgenschwerste Skandal der jüngeren Kölner Geschichte verhandelt. Neun Jahre nachdem bei U-Bahnarbeiten am Waidmarkt das Stadtarchiv und zwei Nachbarhäuser einstürzten, zwei Menschen starben und unzählige Regalkilometer Archivalien verschüttet wurden, soll nun endlich die Schuldfrage geklärt werden. Doch bereits am zweiten Prozesstag Mitte Januar hat das Interesse merklich nachgelassen. Nur etwa zehn Menschen sitzen im Zuschauerraum, dazu eine Handvoll Journalisten, die pflichtbewusst ihre Blöcke vollschreiben. Nicht einmal die Mit-arbeiter am Infostand wissen, in welchem Saal der Archivprozess stattfindet.

 

Angeklagt sind fünf Personen, die mit dem U-Bahnbau zu tun hatten: ein Polier und zwei Bauleiter der beauftragten Baufirmen sowie zwei Mitarbeiter der KVB, die Bauherrin war und gleichzeitig die Bauaufsicht innehatte. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Baugefährdung und fahrlässige Tötung vor, darauf stehen bis zu fünf Jahre Gefängnis. Laut Anklage soll der Polier gemeinsam mit einem Baggerfahrer, getrieben von Zeitdruck, beim Bau einer Schlitzwand-Lamelle gepfuscht und anschließend Protokolle gefälscht haben — und zwar bereits im Jahr 2005, als sie die Baugrube für das Gleiswechselbauwerk am Waidmarkt aushoben. Die löchrige Schlitzwand habe dann am 03. März 2009 schlagartig nachgegeben. In kürzester Zeit seien große Mengen Erdreich und Wasser in die Baugrube gedrungen und hätten dem benachbarten Stadtarchiv den Boden entzogen.

 

Wegen einer schweren Krankheit wurde das Verfahren gegen den Baggerfahrer abgetrennt; der Polier verweigert die Aussage. Mit hängendem Kopf verfolgt er die Prozesstage. Sein Anwalt lässt nach Verlesung der Anklage lediglich verlauten, sein Mandant bedaure die Katastrophe, »unabhängig davon, ob er dafür verantwortlich ist oder nicht.« Die Bauleiter aber sind bereit zur Aussage. Ihnen wird fahrlässige Tötung durch Unterlassen vorgeworfen, weil sie die Arbeiten nicht kontrolliert hätten. Sie weisen alle Vorwürfe zurück: Einer gab an, zur fraglichen Zeit im Urlaub, der andere, für den betreffenden Abschnitt der Schlitzwand nicht zuständig gewesen zu sein. Am zweiten Prozesstag befragt der Richter sie stundenlang bis ins Detail zur Technik des Schlitzwandbaus. Während sie Auskunft geben, haben sie die Folgen ihrer verpfuschten Arbeit vor Augen. Als habe man eine plumpe Theaterkulisse errichtet, geben die Fenster des Gerichtssaals den Blick genau auf die Bauarbeiten zum neuen Stadtarchiv frei, das nebenan an der Luxemburger Straße hochge-zogen wird.

 

Die Bauleiter erläutern, man habe »in offener Wasserhaltung« gebaut. Die Baugrube habe also unten keinen Abschluss gehabt, so dass man das aufsteigende Grundwasser ständig habe abpumpen müssen. Dies sei die wirtschaftlichste Bauweise. Es gibt Sachverständige, die glauben, dass eine außer Kontrolle geratene Wasserhaltung auf der Baustelle die eigentliche Ursache für das Unglück gewesen sei. Der Kölner Bauingenieur und Statik-Experte Stefan Polónyi etwa vermutet, die Baufirmen hätten die Pumpleistung fahrlässig erhöht, als man feststellte, dass die Baugrube nicht dicht sei, und damit auch Sand unter dem Archiv weggespült. Noch am Tag des Unglücks, so erfahren die Zuschauer im Gericht, sollte ein weiterer Brunnen direkt vor dem fehlerhaften Abschnitt der Schlitzwand installiert werden. Bevor es dazu kam, stürzte die Baugrube ein. Die Frage sei, so Polónyi, »inwieweit der Auftraggeber, also die Stadt, durch die Genehmigung der Brunnen für diese Lage mitverantwortlich ist.«

 

Diese Frage jedoch wird vor Gericht nicht verhandelt. Die Staatsanwaltschaft konzentriert sich ausschließlich auf die fehlerhaft gebaute Schlitzwand als Unglücksursache. Auch sitzen keine städtischen Mitarbeiter auf der Anklagebank. Die Staatsanwaltschaft interessiert sich nicht für
sie — nicht einmal im sogenannten Ursprungsverfahren, in dem die Staatsanwaltschaft weiterhin gegen etwa 90 Personen wegen Baugefährdung ermittelt. Das teilte Staatsanwalt Renke Hoogendorn der Stadtrevue mit.

 

Der Kirchturm von St. Johann Baptist, der sich bereits im September 2004 eindrucksvoll neigte, Risse in den Wänden des Stadtarchivs, von Geisterhand durch die Flure rollende Rollwagen — all das veranlasste weder die Verantwortlichen der Baufirmen, noch von KVB oder der städtischen Gebäudewirtschaft, die Bauarbeiten zu unterbrechen und größere Untersuchungen anzuordnen. Doch legt man die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft zugrunde, dann haben all diese Zeichen dem Einsturz nichts zu tun. Auch ein anonymer Hinweis eines Mitarbeiters der Gebäudewirtschaft machte auf die Staatsanwälte keinen Eindruck. In dem  Schreiben, das der Stadtrevue vorliegt, belastet der städtische Mitarbeiter seine eigene Dienststelle.

 

Im Friedrich-Wilhelm-Gymnasium gegenüber dem Archiv hatten sich etwa drei Wochen vor dem Einsturz die Fußleisten um zwei Zentimeter geöffnet. Daraufhin besichtigte ein Statiker der Gebäudewirtschaft den Schaden — und empfahl lediglich, die Fußleisten mit Silikon zu schließen. Dies sei grob fahrlässig gewesen, so der anonyme Hinweisgeber. »Der Statiker bzw. die Gebäudewirtschaft hätte eine sofortige Meldung ausgeben müssen, um die Bauarbeiten zu stoppen. Der Einsturz hätte verhindert werden können!« Staatsanwalt Hoogendorn jedoch teilt mit, der Hinweis habe sich »in Bezug auf die Schlussfolgerungen nicht bestätigt.«

 

»Versäumte Kontrollen, die Anzeichen im Vorfeld, die Wasserhaltung — dass all das im Prozess nicht zur Sprache kommt, ist doch merkwürdig«, sagt Frank Deja. Der Übersetzer hatte nach dem Einsturz die Bürgerinitiative »Köln kann auch anders« gegründet, die sich für mehr Transparenz und Verantwortungsbewusstsein in der politischen Kultur einsetzt. Die Initiative hatte im Jahr 2014 Strafanzeige gegen Engelbert Rummel und Walter Reinarz gestellt. Rummel war früher Chef der Gebäudewirtschaft, Reinarz war Vorstandsmitglied der KVB. Gegen Reinarz wurde nie ermittelt, ein Verfahren gegen Rummel nach den Ergebnissen des Gutachtens eingestellt, das allein die löchrige Schlitzwand als Unglücksursache ansieht. »Es bleibt das Gefühl, dass die Verantwortlichen ungeschoren davonkommen«, sagt Deja.

 

Neben dem Strafprozess ist am Landgericht Köln ein Zivilverfahren anhängig, das Stadt und KVB gegen die Baufirmen angestrengt haben. Sie wollen Ersatz für den Schaden, der durch den Einsturz entstanden ist. Allein die Restaurierung der Archivalien wird noch mindestens 30 bis 40 Jahre dauern, vieles ist unwiederbringlich verloren. »In diesem Prozess hätte die Stadt natürlich eine schlechte Ausgangsposition, wenn in einem anderen Verfahren eigene Mitarbeiter verdächtigt oder verurteilt würden«, sagt Deja.

 

Die Beweissicherung für das Zivilverfahren dauert an. Noch immer nehmen Taucher Erdproben an der Einsturzstelle am Waidmarkt. Erst wenn die Arbeiten abgeschlossen sind, kann die U-Bahn weitergebaut werden. Die KVB hatte Ende des vergangenen Jahres bestätigt, dass die Nord-Süd-Stadtbahn frühestens 2026 fahren wird. Das wäre mehr als 20 Jahre nach Baubeginn. Bis dahin besteht die Strecke weiterhin aus zwei Abschnitten, die vom Hauptbahnhof und aus Richtung Süden an die Unfallstelle heranreichen. Vor allem die Linie 17 von der Severinstraße bis nach Sürth gondelt als Geisterbahn mit wenigen Passagieren durch die Stadt.

 

Schon lange fordern Initiativen wie »Colonia Elf«, die Stadt müsse nach Alternativen suchen. »Der ÖPNV muss sofort verbessert werden«, sagt Andreas Wulf von der Anwohnerinitiative. Eine Möglichkeit sei, die Linie 6 wieder in Betrieb zu nehmen. Sie fuhr bis 2002 von Longerich über den Chlodwigplatz nach Marienburg. Die Stadt aber hält an ihren ursprünglichen Plänen fest. Im vergangenen Oktober ließ sie 300 Bäume an der Bonner Straße fällen. Dies war der Startschuss für die dritte Baustufe der Nord-Süd-Stadtbahn, die bis zum südlichen Verteilerkreis in Marienburg führt, anschließend soll die vierte und letzte Baustufe bis nach Rondorf und Meschenich folgen. Und dann ist da noch das Herzensprojekt der Verkehrsdezernentin Andrea Blome: die Ost-West-Achse. Sie soll vom Heumarkt in den Westen führen, und Blome will einen U-Bahntunnel bauen. Bestimmt klappt es diesmal besser.