Mit Heidegger im Kornfeld: »Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot«

Agenda 2020

Bei der Berlinale wurde dieses Jahr neben den Filmen vor allem die Zukunft des Festivals thematisiert.

2020 wird Dieter Kosslick nicht mehr Leiter der Berlinale sein. Seit 2001 führt der ehemalige Chef der Filmstiftung NRW Deutschlands größtes Kulturevent. Kritik an seiner Arbeit gab es vor allem von Seiten der Filmjournalisten und auch einiger Kreativer immer – vermisst wird eine fundierte Haltung zur filmischen Ästhetik, ein cinephiler Geist. Der sollte sich bei einem A-Festival vor allem in der Auswahl des internationalen Wettbewerbs manifestieren, der in Berlin zu oft beliebig wirkt oder als sei er Sachzwängen untergeordnet. Die Filmbranche freut sich dagegen über einen gut laufenden Filmmarkt im Rahmen des Festivals und die Geldgeber über volle Kinos und einen glänzenden Standorteffekt für die Stadt Berlin.

 

Im verganenen Herbst sorgte ein Brief, unterschrieben von fast allen namhaften Regisseuren Deutschlands, für Furore, in dem sie unter anderem einen transparenten Prozess bei der Suche nach der Nachfolge forderten, aber auch eine programmatische Erneuerung und Entschlackung. Es solle eine herausragende kuratorische Persönlichkeit gefunden werden, die „für das Kino brenne“ schrieben Filmemacher wie Fatih Akin, Christian Petzold oder Maren Ade. Der sonst immer so fröhliche Kosslick was not amused. Und schnell sprangen ihm die Politik und viele Branchenvertreter bei. Einige der Regisseure ruderten daraufhin zurück: Der Brief sei nicht als Kritik am 70-Jährigen zu verstehen, sondern rein in die Zukunft gerichtet gewesen. Das war wenig glaubwürdig, nimmt der Brief doch genau die Punkte auf, die schon seit Jahren an der Berlinale kritisiert werden: das ausufernde, wenig profilierte Programm und ein Festivalleiter, dem man sein Feuer für das Kino nicht abnimmt – Kosslick hatte selber bei der Eröffnung des letztjährigen Festivals gesagt, dass er nicht so gerne ins Kino gehe und lieber zuhause Filme gucke. Eine undenkbare Aussage für einen Festivalleiter aus Cannes oder Venedig – gerade in Zeiten von Netflix & Co.

 

Dass dieser kritische Blick auf die Berlinale – anders als von Kosslick immer wieder behauptet – auch international geteilt wird, zeigte unter anderem ein Artikel aus dem renommierten Branchenblatt Hollywood Reporter, der während des Festivals erschien, darin wird die Berlinale als »schwerfälliges Monster« beschrieben mit einem »unausgewogenen Wettbewerb«. In letzter Zeit könne das Festival wohl lediglich wegen seiner Größe in einem Atemzug im Cannes und Venedig genannt werden, schreiben die Autoren des Texts.

 

Was konkret geändert werden könnte und besser gemacht werden sollte, darum drehten sich dieses Jahr viele Gespräche rund um den Potsdamer Platz. Wenn bei Fußball-Weltmeisterschaften sich 80 Millionen Deutsche in Bundestrainer verwandeln, werden zu Berlinale-Zeiten alle hiesigen Filmliebhaber zu Festivalstrategen. Der Verband der deutschen Filmkritik veranstaltete sogar ein öffentliches »Kneipengespräch« zum Thema. Denn auch wenn Kosslick nächstes Jahr noch im Amt sein wird, dieses Jahr muss/müssen ein oder mehrere Nachfolger/Nachfolgerinnen gefunden werden, um eine reibungslose Übergabe zu gewährleisten (wahrscheinlich ist übrigens, dass der Posten zukünftig aufgeteilt wird in einen Festivalpräsidenten und einen künstlerischen Leiter).

 

Die am häufigsten zu hörende Idee, ist eine Verschlankung des Programms, das momentan aus um die 400 Filmen in ungefähr 15 verschiedenen Sektionen besteht. Der Hollywood Reporter schreibt etwa: »Es ist Zeit, sich jede Sektion genau anzugucken und neu über ihre jeweilige Existenzberechtigung nachzudenken«. Das Problem: Die Größe des Festivals mit Zuschauerzahlen, die die der eher branchenorientierten Veranstaltungen in Cannes und Venedig um ein vielfaches übertreffen, ist ja gerade das Alleinstellungsmerkmal des Festivals im Vergleich zu seinen direkten Konkurrenten – und außerdem ein wichtiger Tourismusfaktor für Berlin. Eine radikale Verschlankung ist politisch daher nicht gewollt.

 

Viele Filme zu zeigen ist ja auch nicht per se ein Problem – wenn die einzelnen Programme ein klares Profil haben und mit Sachverstand und Sorgfalt ausgewählt sind. Bei von Kosslick eingeführten Sektionen wie »Kulinarisches Kino« und »Lola at Berlinale« dagegen hat man den Eindruck, dass es mehr um die persönlichen (nichtfilmischen) Vorlieben des Festivalchefs geht oder um die Begehrlichkeiten der deutschen Filmbranche. Während die Unterschiede der Profile der Premierensektionen »Forum«, »Panorama« und der Wettbewerb selbst für langjährige Berlinalegänger kaum noch zu fassen sind.

 

Beim Nachdenken über die Zukunft der Berlinale hilft es vielleicht, sich vom üblichen Vergleich mit Cannes und Venedig zu befreien und den Blick auf ein anderes großes europäisches Publikumsfestival zu werfen: das Internationale Film Festival Rotterdam (IFFR) mit jährlich um die 300.000 Zuschauern (Berlinale: ca. 500.000). Über 600 Filme liefen hier im Januar. Ja, auch dieses Festival ist ein »Monster«, aber als »schwerfällig« nimmt man es nicht wahr, vielmehr als lebendig, überbordend, im positivem Sinne überfordernd. Das liegt nicht nur am jungen Publikum und an der modernen und perfekten Organisation – vom Ticketverkauf über das Internet, ohne die bei der Berlinale so üblichen Schlangen, bis hin zur frischen Außendarstellung über ein sympathisches Corporate Design und eine perfekte Social-Media-Einbindung. Vor allem ist es natürlich das Programm, das mit einer Unzahl an experimentierfreudig kuratierten thematischen Reihen punkten kann. Dieses Jahr etwa mit einer Reihe zum hier weitgehend unbekannten aktuellen tamilischen Kino und einem großen thematischen Schwerpunkt zu Geschichtsdarstellungen im Film unter besonderer Berücksichtigung der „Verlierer“ der Geschichte.

 

Der Schwachpunkt von Rotterdam ist eindeutig der Wettbewerb, der sich auf Filme von Nachwuchsregisseuren beschränkt, und die anderen Reihen mit Premieren. Da Rotterdam sich in der Hackordnung der europäischen Festivals A-Festivals irgendwo zwischen Rang fünf und zehn befindet, bleiben kaum erstklassige Filme für den Wettbewerb um den Goldenen Tiger übrig. Doch dankenswerterweise hält das Festival den Wettbewerb mit knapp zehn Filmen pro Jahr sehr schlank. Auch daran könnte sich Berlin ein Beispiel nehmen: Würde die Berlinale die Anzahl der Wettbewerbsfilme auf ca. 15, ließe sich einiges an Unausgewogenheit vermeiden.

 

Wobei im aktuellen Wettbewerb zwar misslungene Werke gezeigt wurden, aber anders als in den letzten Jahren kaum Filme, die so mittelmäßig und anspruchslos waren, dass man sich fragte, wie sie überhaupt auf das Festival kommen konnten. Bestes Beispiel ist vielleicht Philip Grönings »Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot«. Die Latte zu niedrig gelegt zu haben, kann man dem neuen Professor an der Kölner Internationalen Filmschule sicherlich nicht vorwerfen: Drei Stunden Heidegger- und Augustinus-Exegese durch zwei Teenager in einem sommerlichen Kornfeld münden in einen »Bonny & Clyde«-artigen Gewaltexzess. Wie Terrence Malick versucht Gröning (»Die große Stille«) die haptisch-physische Welt mit den großen abstrakten Seinsfragen kurzzuschließen. Was dabei vor allem entsteht, ist der Eindruck eines großen Kunstwollens, das nur in einzelnen Szenen die disparaten Elemente zusammenzwingen kann. Doch besser solch monomanischer Wahnsinn als noch ein als Kinofilm getarntes Fernsehspiel – wie sie in der Ära Kosslick öfter im Wettbewerb der Berlinale anzutreffen waren.