Aus Geschwistern werden Klone

Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen erzählen mit »Re-Selected« Filmgeschichte als Geschichte von Filmkopien

Was wohl Walter Benjamin dazu gesagt hätte? Die Aura des Kunstwerks verkümmere im Zeitalter seiner massenhaften Vervielfältigung, schrieb er 1935 in seinem Kulturtheorie-Gassenhauer »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. Er bezog dies vor allem auf die noch jungen Medien Fotografie und Film, die laut Benjamin dem Kunstwerk seine Einmaligkeit, seine individuelle Geschichte und seinen »Kultwert« raubten. Ironie der Geschichte: In den letzten Jahren rückt durch die Digitalisierung aller Lebensbereiche gerade die auratische Qualität der analogen Massenmedien immer mehr in den Blickpunkt. Vom Hype um Schallplatten bis zum Wiederauferstehen der 70mm-Filmproduktion in Hollywood — der Kultwert analoger Trägermedien war nie höher.

 

Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen starten dieses Jahr zusammen mit dem Arsenal — Institut für Film- und Videokunst in Berlin ein auf drei Jahre angelegtes Projekt, das zeigt, dass die analogen technisch reproduzierten Kunstwerke sehr wohl einmalig sind und individuelle Geschichten haben. Das Projekt »Re-Selected« soll Filmgeschichte als Kopiengeschichte schreiben. Das heißt, es werden die Geschichten einzelner Filmkopien und ihrer Wirkungen recherchiert, analysiert und veröffentlicht. Kern der Untersuchung, deren erste Ergebnisse bei den diesjährigen Kurzfilmtagen präsentiert werden, sind etwa 80 Filmkopien, die sowohl in den Archivbeständen des Arsenal als auch in Oberhausen zu finden sind.

 

»Jede Kopie hat gewissermaßen ihre eigene Biografie«, erklärt der Journalist und Kurator Tobias Hering, der das Projekt leitet. Jede Filmrolle trägt nicht nur die Spuren ihres Gebrauchs in sich, sondern hinterlässt auch eine Spur ihrer eigenen Geschichte. Die Abnutzung zeigt, ob es sich um eine Archivkopie handelt oder eine Verleihkopie, Farbstichigkeit gibt Auskunft über Lagerbedingungen, unterschiedliche Schnitt- und Tonfassungen können auf politische Konflikte, kulturelle Eigenheiten oder Zensur verweisen. Versandbelege und Zollnachweise, die in beiden Archiven aufbewahrt worden sind, geben zudem Auskunft darüber, wo Filme gezeigt wurden — und wo nicht. Verzögerte oder verweigerte Zollabfertigungen seien gerade im deutsch-deutschen Kopienaustausch während des Kalten Kriegs Mittel gewesen, um politisch nicht gewollte Aufführungen zu verhindern, erklärt Hering.

 

In Oberhausen präsentiert er unter anderem zwei Sprachfassungen von Alain Resnais’ »Nacht und Nebel«. Der Film war 1956 gleich von zwei Seiten Zensurbestrebungen ausgesetzt. Der Halbstünder gilt heute als einer der bedeutendsten Filme über den Holocaust, zu seiner Zeit aber war er umstritten. In Frankreich wurde eine Szene zensiert, in der ein französischer Offizier ein Internierungslager bewacht, in dem Juden vor ihrer Deportation ins KZ gefangen gehalten werden. Resnais musste die Uniform unkenntlich machen. Von deutscher Seite wurde versucht, bereits die Uraufführung zu verhindern. Die Bundesregierung protestierte mit einem Brief des deutschen Botschafters in Paris gegen eine mögliche Auswahl von »Nacht und Nebel« für die Filmfestspiele von Cannes. Das Festival nahm ihn von der Vorschlagsliste. Daraufhin kam es in der französischen und der deutschen Presse zu Protesten. In Deutschland setzten sich Autoren wie Heinrich Böll und Alfred Andersch für den Film ein. Letztlich wurde »Nacht und Nebel« außerhalb des Wettbewerbs in Cannes gezeigt.

 

In Deutschland lief der Film dann in einer Version, in der die Off-Texte des französischen Schriftstellers und ehemaligen KZ-Häftlings Jean Cayrol von Paul Celan übersetzt wurden. Sie nimmt sich Freiheiten, die aber mit Cayrol abgesprochen waren. In der DDR ließ man dennoch eine politisch opportunere Übersetzung anfertigen: Darin wurde unter anderem die Verantwortung der (west)deutschen Industrie stärker hervorgehoben. »Diese Version ist nicht völlig ideologisch verbrämt«, sagt Hering, »aber der neue Text ist nicht so rhythmisch, das Timing stimmt nicht«. Eine später in der DDR hergestellte TV-Fassung sei dann allerdings inhaltlich »verstümmelt« worden.

 

Zur Komplexität der Geschichte gehört, dass vom Bundespresseamt trotz der anfänglichen Widerstände rund 200 Kopien von »Nacht und Nebel« für die politische Bildungsarbeit gezogen wurden, allerdings aus Kostengründen nur auf Schwarzweiß und auf 16mm statt dem hochwertigeren 35mm-Material. Der Kontrast zwischen den Farbaufnahmen der so friedlich wirkenden, mit Gras bewucherten Konzentrationslager im Jahr 1955 und den schwarzweißen Archivaufnahmen geht im Film so verloren. Was umso widersprüchlicher ist, da Celans Übersetzung die Vergangenheitsform des Originals im Deutschen ins Präsenz überträgt.

 

Tobias Hering steht noch am Anfang seiner Erforschung der Filmkopien. Was aber jetzt schon sicher ist: Unterschiedliche Sprachversionen gibt es auch im digitalen Zeitalter, doch die Einmaligkeit, die individuelle Geschichte und der Kultwert der einzelnen Kopien gehen weitgehend verloren. Im analogen Zeitalter ähnelten zwei Kopien, die vom selben Negativ gezogen wurden, Zwillingen, die bei der Geburt kaum zu unterscheiden waren, sich dann aber zu unterschiedlichen Persönlichkeiten entwickelten. Im digitalen Zeitalter dagegen ist jeder Film ein Klon. 

 

Infos: kurzfilmtage.de