Ein Leben

Stéphane Brizés Verfilmung von Guy de ­Maupassants Roman ist alles andere als dröges Kostümkino

Den »Hals umdrehen« müsse man der Literatur, um sie filmischem Erzählen anzunähern, behauptet Regisseur Stéphane Brizé im Presseheft zu »Ein Leben«. Die drastische Ausdrucksweise steht in Kontrast zu seiner feinsinnigen Maupassant-Verfilmung, die genuin literarische Qualitäten überzeugend auf die Kinoleinwand überträgt.

 

»Ein Leben« folgt über 27 Jahre der wechselvollen Geschichte von Jeanne, einer jungen Adeligen, die im Jahr 1819 aus einer Klosterschule auf das elterliche Gut in der Normandie zurückkehrt. Dort lernt sie einen verarmten Vicomte kennen und verliebt sich. Erst nach der Heirat stellt sich allerdings dessen wahrer Charakter heraus. »Alle Lügen, das hatte ich nicht erwartet«, erklärt Jeanne ihrem Pfarrer — auf die Fallstricke des Erwachsenenlebens haben sie offensichtlich weder das Kloster noch ihre liebevollen, aber ein wenig weltfremden Eltern vorbereitet. Jeanne kennt keine Hintergedanken, und so kann sie auch bei anderen keine erkennen. Das macht es leicht, ihre Gutmütigkeit auszunutzen.

 

So wie Brizé bereits in seinem Arbeitslosendrama »Der Wert des Menschen« (2015) klug die Konventionen des Sozialrealismus den Bedürfnissen seiner Geschichte angepasst hat, so verlässt er sich in »Ein Leben« nicht auf die etablierten Codes des Kostümdramas. Die Welt des Landadels im frühen 19. Jahrhundert wird nicht in Cinemascope-Tableaus ausgestellt, sondern die Enge des Lebens und des Horizonts Jeannes im fast quadratischen Normalformat spürbar gemacht. Die oftmals unbewegte, aber handgehaltene Kamera passt sich dabei subtil dem »Pulsieren des Innenlebens« der Protagonistin an, wie es Brizé formuliert. Der gesamte Film ist auf Jeannes Perspektive ausgerichtet: Sie ist in jeder Einstellung entweder selbst oder durch ihre Blicke präsent. Die elliptische Erzählweise erzeugt dabei zusammen mit komplexen Rückblenden und Off-Tönen einen visuellen Bewusstseinsstrom, der literarischen Erzählweisen nahekommt. 

 

So sehr Brizés Film dabei von dem Wissen um die beschränkten gesellschaftlichen Möglichkeiten selbst einer Adeligen im 19. Jahrhundert geprägt ist, so wenig wird Jeanne jemals zum Beweis einer These oder politischen Botschaft degradiert. Am Ende ist es, wie der Titel es verspricht: ein ganz spezifisches, komplexes Leben, das hier nachfühlbar wird. Dem Köln-Bonner Verleih »Film Kino Text« ist es zu verdanken, dass dieses Kleinod, das bereits 2016 in Venedig mit dem Preis der Internationalen Filmkritik ausgezeichnet wurde, endlich auch in Deutschland zu sehen ist.

 

 

Ein Leben (Une vie) F 2016, R: Stéphane Brizé, D: Judith Chemla, Jean-Pierre Daroussin, Yolande Moreau, 119 Min.