Musik als Notwehr

Das Acht-Brücken-Festival ist vorbei, die Fragen, die Bernd Alois Zimmermanns Musik aufwirft, bleiben. Ein Rückblick

200 Jahre Karl Marx, 100 Jahre Bernd Alois Zimmermann — das eine ist ein globales Ereignis, das andere eins für die Neue Musik und natürlich für unsere Stadtgesellschaft, denn die Musik des Kölner Komponisten konnte in dieser Form eben nur hier, in der muffig erzkatholischen Stadt, die in den 60er Jahren dennoch der radikalen Avantgarde Platz bot, stattfinden — eine einmalige Konstellation.

 

Die beiden Geburtstage nebeneinander zu stellen, scheint bloß formal, tatsächlich gibt es eine Gemeinsamkeit. Was wir bei Marx oder Zimmermann bestaunen, was irritiert oder fasziniert, ist die Vorbehaltlosigkeit, mit der sie sich den ganz großen Fragen stellen, die Verweigerung der Arbeitsteilung innerhalb ihrer Profession, das Denken und Handeln in Zusammenhängen, die immer weiter greifen, schließlich die Welt umspannen. Wer wagt sich das heute noch? In diesem Zugriff aufs Ganze liegt das Unabgegoltene der modernen Gesellschaft, die mit Marx begann und die in den 1960ern in Reflektionen wie denen von Bernd Alois Zimmermann noch einmal glämzen konnte.

 

Zur Moderne gehört auch die kompromisslose Selbstanzweifelung. Bettina Zimmermann, die ihrem Vater mit »Con Tutta Forza« jüngst eine so liebevolle wie materialreiche Biographie gewidmt hat, zitiert aus einem Brief, den ihr Bernd Alois am 3. August 1970 geschrieben hat, zwei Tage vor Abschluss seiner »Ekklesiatischen Aktion«, eine Woche vor seinem Freitod. Er schreibt »daß die Musik, ob als Kunst oder Anti-Kunst, sich selbst umgebracht hat. Selbstverständlich wird es weiter Musik geben, Musik die wir meinen, auch für die Zukunft meinen, weil man sonst nicht existieren kann: Kunst als Notwehr gegen ein Leben, das total aus den Fugen zu gehen droht und schon gegangen ist. (Nur haben es die meisten noch nicht bemerkt.)« Natürlich kann man diskutieren, inwiefern dieser Brief von den tödlichen Depressionen geprägt ist, unter denen Zimmermann litt. Aber es geht nicht um eine Krankengeschichte. Musik als Notwehr, als Hoffnung für die Zukunft, selbst dann wenn sich die Musik »selbst umgebracht hat« (man kann das als Anspielung auf den regelrechten Formalismus-Wahn der seriellen Komponisten verstehen): Darüber bleibt zu reden, denn — noch mal — wer formuliert heute so einen Anspruch?

 

Wie Zimmermann diesen Anspruch zu erfüllen suchte, erfuhr man auf den diesjährigen »Acht Brücken« , die Leben und Werk des Komponisten gewidmet waren. Natürlich stand seine Oper »Die Soldaten« im Mittelpunkt. und natürlich staunen wir heute noch über die Fülle der Mittel, derer sich Zimmermann virtuos und immer unkonventionell zu bedienen wusste. Musik ist hier immer schon erweitert, »total«, schließt Text und Bühnenaktion in sich ein. Aber was man eben nicht vergessen darf: Die Oper erwächst aus einem ultrastrengen Prinzip, einer »symmetrischen Allintervallreihe« (Ulrich Dibelius). Dieses Kompositionsprinzip spitzt die Idee der Zwölftonreihe zu, indem die Reihe nicht nur alle Tonhöhen je einmal enthält, ehe sie wiederholt werden dürfen, sondern auch alle Intervalle. Diese Strenge in der Struktur überführt Zimmermann, und das ist die Pointe, in ein plurales Gesamtkonzept, das sich der Wirklichkeit der (sozialen, ästhetischen) Zersplitterung, in der die Splitter gleichwohl mal zwanghaft, mal in freier Koalition verbunden sind, gewachsen zeigt. 

 

Dieser Schwebezustand von offener Konstruktion und strenger innerer Struktur ist vielleicht durchgehend für sein Werk charakteristisch — man konnte ihn in Zimmermanns früher »Sinfonie in einem Satz für großes Orchester« (1951) hören, ein expressives Werk der freien Atonalität, das sehr zeitgebunden ist — die Schrecken des Krieges klingen buchstäblich nach —, trotzdem nicht angestaubt klingt. Das Stück wurde im Zusammenhang mit Carola Bauckholts »Im Auge des Klangs«, einem aktuellen Auftragswerk für den WDR, aufgeführt — beide bespiegelten sich perfekt. Denn Bauckholt ist eine der letzten großen Klangforscherinnen der Neuen Musik, die die innere Struktur von Klängen freizulegen imstande ist. Man kann von ihrem Werk durchaus eine Linie zu dem von Zimmermann ziehen.

 

Das »Requiem für einen jungen Dichter« fand »nur« als Filmvorführung statt (mit suggestiven, zu suggestiven Bildern von János Darvas und Thorsten Fricke), immerhin zeigte der Film, dass schon das Stück an sich eine Inszenierung ist — Musiktheater, Filmmusik, Kino für die Ohren. Und noch einmal fiel auf, wie elegant Zimmermann freien Jazz zu den Zitaten von Wittgenstein, Joyce oder Mao montier-te. Auch das ein Hinweis auf die Musik der Zukunft: Was bleibt, ist nämlich die Improvisation.

 

Fast am Ende des Festival kam dann die »Ekklesiastische Aktion für zwei Sprecher, Bass und Orchester«, Dirigent Michael Wendeberg, den Sprechern und dem Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester schoss das Pathos ins Kreuz. Es ist ein Werk, das sicherlich noch mal und letztmalig den Ideen Zimmermanns entspricht, das aber zu sehr nach Programmmusik klingt, in der die Gefühlsblöcke Erlösung, Vergehen, Trost und Verzweiflung zu starr vorgeführt sind. Das »Requiem« hat da eine ganz andere, produktivere  Spannung.

 

Hätte man, vielleicht zwanzig Jahre später, Zimmermann einen Dekonstruktivisten genannt? Seine Musik ist radikaler, es ist Scherbenmusik. Sie nimmt nichts auseinander, sondern sammelt auf, setzt wieder zusammen, hält dabei die Lücken und das Zersprungene aus. Das Gesamtkunstwerk, auf das jemand wie Wagner auf Biegen und Brechen hinauswollte, ist zerbrochen, und die Wirklichkeit spiegelt sich in den Scherben, die dieser Größenwahn hinterlassen hat. 

 

 

Buch: Bettina Zimmermann, »Con tutta forza — Bernd Alois Zimmermann: ein persönliches Portrait«, Wolke Verlag 2018, 464 Seiten, 34 Euro