Epiphanie mit Ampelmännchen

Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 197

Eine rote Ampel ist immer ein Test der Charakterfestigkeit. Eine Straße zu überqueren, obwohl die Ampel Rot zeigt, hat etwas Vulgäres. Man bricht die Regel und nutzt für die großspurige Geste die umstehenden Wartenden als Publikum. Über rot zu gehen, verhöhnt sie: Seht, während ihr brav herumsteht, lasse ich mich nicht aufhalten. Living easy, living free, nobody’s gonna slow me down. Das ist der tiefere Sinn der Floskel »Langsam nervt’s«.

 

Diese Auffassung ist bedauerlich weit verbreitet. Ich war mal Mitglied einer Punkband, deren LP-Cover zeigte, wie wir auf -Bonanzarädern trotzig ein Durchfahrt-verboten-Schild ignorierten, nicht ohne Stinkefinger. Die Straßen-verkehrsordnung war der Staat. Wir waren Rebellen und ein bisschen doof (was für einen Rebellen meist hilfreich ist). Als Punker war man früher für Dosenbier und gegen den Staat. Heute müsste man für Mehrwegflaschen regionaler Kleinbrauereien und gegen Amazon, Apple, Facebook, Google sein. Aber so etwas ist verdammt schwer zu singen.   

 

Das hohle Pathos, die Straßenverkehrsordnung zu missachten, findet man nicht nur unter Rebellen, sondern auch beim Spießer. Dann gepaart mit höherer Moral: Muss schnell machen!

 

Da sind die nervösen Mütter. Hart verkapselt in SUVs, so wulstig wie übergroße 90er-Jahre-Turnschuhe. Damit rasen sie durchs Wohngebiet, um ihre Blagen zur Schule oder in die ADHS-Therapie zu transportieren, damit sie nicht in Kontakt zur Außenwelt geraten, wo namenlose Gefahren lauern, zum Beispiel andere Menschen, womöglich aus einer niedrigeren Gehaltsklasse als Papa und Mama.

 

Beschleunigung dient aber gar nicht der Zeitersparnis. Zweck ist ihre Sinnbildlichkeit: Wir sind in Bewegung! So fliehen wir vor unseren Gespenstern. Die rufen: -Stehen bleiben! Keine Bewegung! Doch es gibt keine Gespenster. Es gibt nur den Geist in der digitalen Maschine, der uns höhnisch antreibt. Er ist uns so nahe gekommen, dass er in unseren Kopf kriecht. Unsere Gedanken sind gefangen in den digitalen Routinen, wir drehen hohl. Unser Körper soll umso augenfälliger Agilität bekunden: Ortsverände-rung, Aktivität — leere Mechanik. 

 

Alles machen wir zu schnell: Staubsauger werden wie Besen benutzt, elektrische Zahnbürste wie mechanische, und Rolltreppen benutzen wir als rollten sie nicht. Wir können nicht stillhalten. Wenn ich auf der Rolltreppe gehe, dauert es 19 Sekunden. Stehe ich, sind es 42. Was aber fange ich an mit 23 Sekunden? Zeit, um die Menschheit über meinen Avocado-Smoo-thie und meinen crazy Alltag zu informieren.

 

Meine Rettung war das rote Ampelmännchen. Es sprach: Warte, bis das grüne Ampelmännchen erscheint. Wir zwei helfen Dir! Andere hören an isländischen Gey-siren die Elfen flüstern. Meine Epiphanien finden an der Lichtsignalanlage statt. 

 

Ich warte auf die grünen Männ-chen. Sie kommen nicht mit dem Ufo. Sie sind schon da, in der Lichtsignalanlage. Jede Ampel ist ein Altar der Licht-Mystik. Aber warte ich an der Ampel auf das grüne Männchen? Oder bringt nicht vielmehr das rote Ampelmännchen schon die Offenbarung, indem es mich auf mich selbst zurückwirft? Es lehrt mich die Lektion der Langmut. Ich warte, stehe still, doch in mir brausen Feuerstürme. Die kosmische Melodie in mir ist ein Largo furioso. Ein Mann sieht rot und wartet auf grün. Grünes und rotes Ampelmännchen — Yin und Yang.

 

Dass diese Licht-Mystik im Einklang mit der modernen Verkehrspädagogik steht, spricht für sie. Spiritualität und praktische Vernunft schließen sich nicht aus. Wenn dann die Ampel auf Grün springt, muss man aber gut aufpassen, dass man derart gedankenverloren nicht über seine eigenen Beine stolpert. Zumal, wenn man spät dran ist.