Zurück zur Utopie

Robert Barry streitet mit seinem Essay

»Die Musik der Zukunft« für ein

grenzenloses Musikdenken

Wann verschwand die Zukunft aus der Musik? Das lässt sich präzise benennen. 1977 sangen die Sex Pistols »No future« und beendeten damit nicht nur eine Epoche der Rockmusik, sondern gleichzeitig auch das utopische Denken im Pop. »Es mag merkwürdige klingen«, schreibt der britische Journalist Robert Barry, »aber Punk hat dabei geholfen, jenen neuen Realismus und künstlerischen Pragmatismus durchzusetzen, der eher auf individuelle Ermächtigung statt auf kollektive Transzendenz zielte.«

 

»No Future« platzte in eine Zeit, in der einer Band wie The Who, die wenige Jahre zuvor bis zum Burnout an einer utopisch-kollektivistischen Rock-Oper arbeitete (das »Lifehouse«-Projekt) die Kräfte schwanden, Sun Ra seinen orchestralen Afro-Futurismus kaum noch finanzieren konnte und wieder mit kleineren Besetzungen auftrat und Karlheinz Stockhausen seine transzendentale Musik endgültig in einen gigantischen Ego-Trip verwandelte.

 

Barry, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Konzept-Künstler, hat ein feines Gespür für solche Umschlagmomente. Das kommt daher, dass er nicht in Pop-Formaten denkt. Sondern, ungewöhnlich für unsere gegenwartsveressene Zeit, große Linien zieht, die ihn zurück ins frühe 19. Jahrhundert führen: zu Charles Fourier (1772–1837), dem hellsichtigsten Sozialkritiker seiner Zeit, dem Karl Marx unendlich viel verdankt. Und gleichzeitig ist der Franzose jedem ordentlichen Sozialisten ein bisschen peinlich. Denn der erste Kritiker der modernen bürgerlichen Gesellschaft war zugleich Phantast, schrulliger Einzelgänger, Luftschloss-Architekt, der die Verwandlung der Ozeane in Seen aus Limonade wissenschaftlich präzise deduzierte. Nun ja. Man nennt Fourier, nebenbei: auch der erste Gender-Theoretiker, den Buster Keaton des Sozialismus. Barry nimmt diese Verschränkung von himmelstürmender Fantasie und analytischer Schärfe aber sehr ernst, er zeigt, dass Fourier in erster Linie Musikdenker war. Ein begeisterter Opengänger, der im totalen Musiktheater beides fand, ungezügelte Fantasie und die strenge Disziplin, diese Bilder von Lust, Rausch, Wut und Trauer auch auf die Bühne zu bringen. Fourieres Vorstellungen einer neuen Harmonie sind zuerst musikalisch begründet.

Ein Sprung um 150 Jahre nach vorne: Sun Ra (1914-1993, wenn man so will: der Charles Fourier des Jazz) nennt in den 60er und 70er Jahren die Free-Jazz-Explosionen seiner Big Band »Discipline«. Im Moment der radikalen Freiheit — der nicht von Regeln geleiteten Kollektivimprovisation — verlangt dieser große Sohn Alabamas strengste Disziplin, maximales Hörbewusstsein, maximale Individualkontrolle jedes Musikers über alle Parameter seines jeweiligen Instrumentes. Nur eine Handbewegung des Meisters und die Kakaophonie erstirbt, um in einem satten Big-Band-Groove oder einem kosmischen Chant einen gänzlich anderen Ausdruck zu finden: »It’s after the end of the world, don’t you know that yet?«, fragen die Musiker immer bohrender, bis eine neue Runde von »Discipline«-Exerzitien eingeläutet wird.

 

»Was mich eigentlich interessiert, ist die Art und Weise, wie Komponisten der Vergangenheit mit der Idee der Zukunft Veränderungen in unserem Verständnis von Musik bewirkt haben, die wir bis heute spüren«, so beschreibt Barry eine Vorstufe zu seinem Buch. Diese Frage ist immer noch das treibende Motiv seines Essays, der, so mag man jetzt denken, vielleicht besser »Die Zukunft in der Musik« geheißen hätte. Aber nein, Barry beharrt darauf, dass es ihm tatsächlich um die Musik der Zukunft geht, dieser eigentlich viel zu großspurige Ansatz hebt sein Buch über die üblichen kulturwissenschaftlichen Untersuchungen hinaus und macht es so anregend. 

 

Er zeigt nämlich, dass die Musik der Zukunft in jeder Epoche der »modernen Gesellschaft« (Karl Marx) mit den Hoffnungen auf soziale Emanzipation verknüpft war, sie ästhetisch-visionär überhöhte, aber gar nicht in einem allzu engen Verhältnis zu den realen Hoffnungen ihrer Epoche stand und genau deswegen auf sie zurückwirken konnten. Die Musik der Zukunft ist einfach die, die sich — wie bewusst oder unbewusst auch immer — diesen Hoffnungen öffnet. Die Aufgabe der Kritiker besteht darin, diesen utopischen Überschuss stark zu machen, und zwar im Widerstand gegen jeden Hype- und Besserwisser-Journalismus.

 

Barry ist sich durchaus gegenläufiger Tendenzen bewusst, man muss sie aushalten: Die Radikalisierung der Neuen Musik, er zeigt das exemplarisch an Cage und Stockhausen, lief zunächst auf eine Musik außerhalb der Menschen — und ohne Menschen — hinaus, ehe sich dieser Radikalismus, dem Barry jede Berechtigung zubilligt, brach und einer meta-humanistischen (Cage) und sozial-transzendentalen (Stockhausen) Ästhetik den Weg bahnte. Punkbands nennt Barry »Medienkonglomerate im Kleinformat, um die kommerzielle Popmaschinerie zu demystifizieren« — ein notwendiger Befreiungsschlag! Und gleichzeitig die Einläutung des neoliberalen Zeitalters im Pop. 

 

»Die Musik der Zukunft« ist frei von Dünkel, Barry schreibt hemdsärmelig-pragmatisch, wie man es von britischen Autoren kennt. Manchmal wünscht man sich mehr dialektische Schärfe, aber das Buch steht meilenweit über dem belehrenden Diskursgeschwurbel, wie er hierzulande dominiert.

 

Aber wie klingt sie nun — die Musik der Zukunft? Darüber bei Barry kein Wort, einzig den Fingerzeig, dass wir es nur selbst herausfinden können, indem wir uns zu unseren Utopien bekennen.

 

 

 

Buch: Robert Barry, »Die Musik der Zukunft«, Edition Tiamat, Berlin 2018, 239 Seiten, 20 Euro