»Identität ist etwas Wandelbares«

Die argentinische Regisseurin Lucrecia Martel über ihren Film Zama und

was Historienfilme mit Science-Fiction verbindet

»Zama« ist Ihr erster Spielfilm seit zehn Jahren. Wie kam es zu dieser langen Pause? Ich weiß nicht, woher die Vorstellung kommt, dass man alle zwei bis drei Jahre einen neuen Film drehen muss. Das ist ein Rhythmus, der ausschließlich den Interessen des Marktes geschuldet ist. Niemand ist in regelmäßigen Abständen kreativ und kann diese Kreativität alle zwei Jahre in einem Film zum Ausdruck bringen. Ich nehme mir einfach Zeit für die unterschiedlichen Lebensbereiche und Interessen: Das kann, muss aber nicht meine Arbeit als Filmemacherin sein. Eigentlich sollte man diese Leute bestrafen, die unentwegt Filme drehen und im Grunde nichts zu erzählen haben. Es gibt Länder, in denen nur deshalb so viele Filme produziert werden, weil das Geld zur Verfügung steht, aber nicht, weil es dort so viel Talent gäbe.

 

 

Ihr Film basiert auf dem Roman des argentinischen Schriftstellers Antonio di Benedetto, der im späten 18. Jahrhundert angesiedelt ist. Es ist somit eine zweifache Reise in die Vergangenheit, die Sie unternehmen: ins Argentinien der 1950er-Jahre zu Benedetto und in die Kolonialzeit Südamerikas. Das ist richtig, aber es ging mir auch darum, die Gegenwart zu entdecken. So wie Benedetto das für seine Zeit getan hat, so habe ich es für meine versucht. Benedetto veröffentlichte den Roman 1956, ein Jahr nach Juan Pérons Sturz, aber die Idee hinter der Erzählung ist universell: das Verhältnis von Individuum und Macht. Benedetto erzählt von Don Diego de Zama als einem Diener der spanischen Krone in Südamerika und wie dieser Mann sich einer ihm fremden Umgebung anzupassen versucht — beziehungsweise versucht, diese ihm anzupassen. Aber die Geschichte dieser Begegnung wurde von jenen geschrieben, die den Sieg davontrugen. Wie können wir also einer Geschichtsschreibung trauen, die aus der Feder der Mächtigen stammt? Das ist die Frage, die uns auch in der Gegenwart beschäftigen sollte.

 

 

Geht es Ihnen also um das fehlende Vertrauen in die Aufzeichnung von Geschichte? Mir ging es mit »Zama« darum, sich ein anderes historisches Szenario auszumalen. Sich wie Benedetto diese Möglichkeit einfach herauszunehmen. Um von der Vergangenheit zu erzählen, bedarf es gleich viel Vorstellungskraft, wie man sie für die Zukunft verwendet. Aber auch den nötigen Respekt vor ihr, weil wir wissen, dass ihre Geschichte von Menschen geschrieben und konstruiert wurde. Und bisweilen genauso erfunden wie die Zukunft. 

 

 

Dieser Fiktion begegnen Sie mit einer ganz eigenen, haptischen Form von Realismus, der an Werner Herzogs »Aguirre, der Zorn Gottes« erinnert. Als könnte man die Kostüme und Bauten jederzeit angreifen, würde man nur den Arm ausstrecken. Auf keinen Fall sollte »Zama« wie ein Kostümfilm aussehen. Das haben mein portugiesischer Kameramann Rui Poças und ich bereits vorab festgelegt. Es war uns wichtig, die Gegenwärtigkeit der Geschichte über die Materialien spürbar zu machen. 

 

Auch dem Ton schenken Sie große Aufmerksamkeit: Man meint jedes Zirpen in der Landschaft zu hören. Der Sound eines Films bestimmt seine Atmosphäre. Wenn Sie im Kino sitzen, können Sie die Augen schließen, aber Sie werden immer alle Geräusche und Stimmen vernehmen. Wenn man dieses Potenzial nicht ausnützt, versäumt man die Möglichkeit, den Zuschauer komplett in den Film hineinzuversetzen. Wenn Sie zum Beispiel sagen, diese oder jene Szene sei stumm, dann meinen Sie wahrscheinlich, dass es keinen Dialog gibt. Aber plötzlich hören Sie umso deutlicher das Gezwitscher der Vögel. Man kann also mit dem Ton wunderbar die Erwartungshaltung brechen und Spannung aufbauen. In einem Film wie »Zama«, bei dem die Handlung nicht wichtig ist — weil es keine Rolle spielt, wer der Mörder ist oder ob sich eine Liebesbeziehung anbahnt —, muss man anderweitig Spannung erzeugen.

 

 

»Zama« stellt die Frage nach der menschlichen Existenz angesichts des eigenen Scheiterns. Man hat das Gefühl, dass über Zama, der dieses große Scheitern personifiziert, von Anfang an der Tod schwebt. Ich vermeide grundsätzlich Symbolik und Metaphorik in meinen Filmen. Aber ich weiß, was Sie meinen: Was man als Zeichen des Todes wahrnimmt, ist dem erwarteten Ende von Zama geschuldet. Di Benedettos Roman erzählt vom Warten und dem Scheitern, mein Film von der Identität als einem Gefängnis, aus dem es kein Entkommen gibt. 

 

 

Betrifft das auch die nationale Identität Ihres Heimatlandes? Sicher. Als Argentinierin habe ich verschiedene Wurzeln, neben den spanischen auch indigene, obwohl das viele Argentinier für sich nicht akzeptieren wollen. Aber das ist das Schöne, dass unsere Identität eine Mischung unterschiedlicher Kulturen ist. Worum geht es, wenn man nur eine einzige Identität verteidigt und Mauern gegenüber anderen Kulturen und Einflüssen hochzieht? Um Angst. Denn Identität ist etwas Wandelbares, sie ist nicht bestimmt. 

 

 

Wovor hat Zama Angst? Jemand Bestimmter zu sein. Zama ist vom spanischen König eingesetzt und hat deshalb eine Rolle übernommen, die alles vorgibt, was er zu tun hat. Aber seine Identität ist nicht vorbestimmt, sie beginnt sich im Laufe seines Aufenthalts zu ändern. »Zama« erzählt von der Möglichkeit der Selbstfindung, die mit jedem Tag aufs Neue beginnt.