Die Musik spielte draußen

50 Jahre »1968«: Da wird der »Schlacht am Tegeler Weg« in Berlin gedacht, der Kritischen Theorie in Frankfurt und der drei Schüsse auf Rudi Dutschke. Köln kommt in vielen Protestchroniken nur am Rande vor. Zu Unrecht, sagt der Politologe und Publizist Claus Leggewie. In seinem Rückblick auf

unsere Protestgeschichte beschreibt der gebürtige Kölner eine Stadt, in der die künstlerische Avantgarde die katholisch-rheinische Gemütlichkeit gehörig aufmischte

Herr Leggewie, in Ihrem Buch über »50 Jahre ’68« zeichnen Sie ein Panorama des damaligen Kölner Protests. Aber Sie waren nicht nur Beobachter, sondern als Schüler und Student Teil dieser Bewegung. Wie würden Sie Ihre Rolle beschreiben?

 


Ich war weder Rädelsführer noch Theoriekopf. Eher ein junger Idealist aus dem konservativ-katholischen Milieu, der zunächst wenig Gründe hatte, damit nicht einverstanden zu sein, aber trotzdem ein wachsendes Unbehagen daran empfand. Diesem Teil der Generation war eine bürgerliche Karriere vorgezeichnet, an der kaum einer zweifelte. Wer wagemutig war, studierte BWL statt Jura, ich Geschichte und Soziologie. Mein Übergang auf die andere Seite vollzog sich im Alter zwischen 16 und 18. Im Oktober 1966 kam es aus heiterem Himmel zu den Protesten gegen die Fahrpreiserhöhung der KVB. Der Anlass ist zu vernachlässigen, außerdem war ich sowieso Fahrradfahrer. Aber wir spürten die Unsicherheit der Polizisten, fühlten die Macht, einfach eine Straßenbahn anzuhalten und bis dahin unantastbare Autoritäten zu verunsichern. Eine Revolution entwickelt sich, sie dekretiert sich nicht. Viele durchliefen eine rasante und dennoch mäandernde Radikalisierung, die sich auch an Ungerechtigkeiten entzündete, die nichts mit Köln zu tun hatten, an der Ermordung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 oder am Krieg in Vietnam. 

 

 

 

Ihre zentrale These ist, dass Köln keine Aktions- und keine Theoriestadt war. Der Protest habe sich hier durch ein breites zivilgesellschaftliches Engagement ausgezeichnet.

 


Wenn Berlin die Aktionshauptstadt und Frankfurt der Theorietank war, war Köln eher ein (Sub-) Kulturzentrum der Jugendrevolte. Natürlich gab es auch Aktionisten wie Kurt Holl und Vordenker, Klaus Novy zum Beispiel. Aber auch seine Beschäftigung mit Selbstverwaltung und Alternativökonomie lief viel pragmatischer ab, sie zielte konkret auf die Bildung von Genossenschaften und die Frage der Selbstveränderung, dockte also an einen Kulturwandel von unten an. Die Fragen nach Sozialisierung und Selbstverwaltung wurden akademisch kaum diskutiert, die Idee der »Kritischen Universität« war dann, sie der Gesellschaft zu öffnen und sich nützlich zu machen.

 

 

 

Man kann Ihre These dahin zuspitzen, dass es Kölns Glück war, gerade keine progressive Uni zu haben. So mussten sich die politische oder soziale Avantgarde und der Nonkonformismus andere Wege suchen.

 

Der Protest an der Uni fand überwiegend in geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern statt, lief meist recht brav ab und konzentrierte sich auf eher systemkonforme Reformen wie die drittelparitätische Mitbestimmung. Die Musik spielte draußen, zunächst in der avantgardistischen Kunstszene. 

 

 

 

Also Stockhausen,Mauricio Kagel oder Wolf Vostell. Aber hat man von dieser Avantgarde, die ja auch sehr abgehoben war, wirklich etwas mitbekommen?

 


Und Can, Floh de Cologne, das Jimi-Hendrix-Konzert, das Lupe-Kino, der Neumarkt der Künste... Die Avantgarde kam nicht zu einem, die musste man aufsuchen, das machte ihren Thrill aus. Man hat das irgendwie mitbekommen, wenn im WDR-Sendesaal Stockhausen aufgeführt wurde, in der »Lupe« Filme von Godard gezeigt wurden oder Rolf-Dieter Brinkmann eine Lesung hatte. Wichtig waren die »Handwerker«. Leute, die diese Erfahrungen übersetzt oder angewandt haben — im ersten Stadtzeitungsprojekt Ana & Bella, im VolksBlatt, in diversen WGs, in der Arbeit mit Jugendlichen und Heimkindern, in selbstorganisierten Theatergruppen. Da fallen mir Leute wie Martin Stankowski, Rainer Kippe oder Lothar Gothe ein. Das reichte weit in die 70er Jahre hinein und prägt Köln bis heute.

 

 

 

Es ging nicht so sehr um einen korrekten Kanon oder ein definitives Programm, sondern um die Übersetzung von künstlerischen und gegenkulturellen Ideen in den Alltag?

 


Wichtig war das Gefühl, man kann die Welt verändern. Die Dinge sind in Bewegung, man kann sie mitgestalten. Das gab den Ausschlag, denn von seiner katholischen Mentalität her war Köln eine sehr konservative Stadt. Ich bin kein Emotionshistoriker, aber mir geht es beim Rückblick weniger um die standesgemäße Theorie, die damals alles maßgeblich beeinflusst haben soll, als um das  Bauchgefühl, um das, was später mit Sex, Drugs & Rock’n’Roll umschrieben wurde. Übrigens gibt es da nicht viel zu glorifizieren, unser Sexualleben war ... nunja, Drogen eher harmlos, wir haben vor allem Bier getrunken. Aber Rock’n’Roll war schon wichtig und vermittelte das Gefühl des Aufbruchs und Durchbruchs. »Break on Through. To the Other Side«, sangen die Doors. Heute, im sogenannten Poststrukturalismus, wird sehr viel Wert daraufgelegt, wie etwas heißt, aber nicht, warum etwas ist und vor allem, wie man es verändern kann. Es stand keine schon fixe Identität im Vordergrund, der wollten wir ja gerade entkommen, sondern die Chance, hier und jetzt etwas zu verändern — gemeinsam mit anderen. Leben im Rudel.

 

 

 

 

Insgesamt beschreiben Sie ein glückliches Scheitern der 68er-Bewegungen. Sie führten nicht zum Rätesozialismus, aber immerhin zu einer Fundamentalliberalisierung des Landes. Trotzdem enden Ihre Beobachtungen mit einer pessimistischen Note. 

 

Richtig. Wenn wir uns nicht wehren, können in fünf oder zehn Jahren Frieden und Freiheit vorbei sein. Dann wäre alles, was von 1968 ausgegangen ist, beschädigt — in Europa wie in den USA. Die Trumps, Bannons, Le Pens, Höckes und Salvinis wollen Europa faschistisch revolutionieren, das sagen sie sehr deutlich. Da reichen keine vornehm-kritischen Einsprüche, man muss sich aktiv engagieren und sich davor hüten, bloß »antiinstitutionell« bleiben zu wollen. Auch die Strukturen der repräsentativen Demokratie bieten Möglichkeiten zum Eingriff, auf allen Ebenen — der Parteien, Gewerkschaften,  Bürgerbeteiligungen. Antifaschisten sind wir sowieso, die Rechte besiegt man mit besseren Projekten und politischen Alternativen.

 

 

Es gibt aber doch viel Engagement. Wer hätte je gedacht, dass es in Deutschland angesichts der Flüchtlingskrise so viel Solidarität und Hilfsbereitschaft geben würde?

 

Genau, aber Konvivialität, das Miteinander und die Alltagssolidarität, ist nicht per se politisch. Es ist wunderbar, wieviel Engagement es in dieser Gesellschaft gibt, wieviel soziale Energie da entsteht — und zwar für ein anderes Leben, ein besseres, heiteres, gemeinschaftliches Leben. Die meisten Menschen wollen nicht zurück in die 50er Jahre, als diese Lockerheit im Verhältnis der Generationen und Geschlechter fehlte. Aber diese Lebenswelt ist politisch noch nicht definiert, deshalb bleibt es oft flüchtig, diffus. Sie muss angebunden werden an Parlamente und Verwaltung — und an die darniederliegenden, aber wiederzuerweckenden intermediären Instanzen, die Parteien, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen. Die Sehnsucht nach dem guten Leben gibt es weiter, aber sie ist wie eine Dame ohne Unterleib. Sie braucht Beine zum Gehen, eine Anatomie, und das sind, so langweilig das für einen 68er scheint, die von mir genannten Institutionen. »1968« hat sich im Guten wie im Schlechten verbürgerlicht. Jetzt müssen wir raus aus der Komfortzone, die Stimme erheben und uns in Bewegung setzen.