Die  Schärfe  des  Blicks

Die Biographie des aus Köln stammenden Künst­lers Michael Oppitz ist un­ge­wöhnlich, denn er ist Eth­no­­loge ­— macht aber keine ethnologische Kunst. Das Kolumba Mu­­seum zeigt seine in­tel­­lek­­­tuell-sinn­­­li­chen Ar­­bei­ten zwischen Fluxus und Welterfahrung

»Die anarchische Haltung ist für mich eine Form der Atemtechnik.« (Michael Oppitz)

 

Als einen Wanderer zwischen den Welten kann man Michael Oppitz gut und gerne bezeichnen. Der Ethnologe, der mehrere Jahre im Himalaya lebte und forschte, als Filmemacher weit über die Grenzen des Fachs hinaus Ansehen genießt, viele Kontinente bereist und in Zürich als Professor das dortige Völkerkundemuseum geleitet hat, erfuhr seine prägende Sozialisation im Rheinland. Nicht zuletzt diesen Umstand macht das Kolumba-Museum in einer spannenden Ausstellung sicht- und erfahrbar, die den Gelehrten, seine Verwobenheit mit der rheinischen Kunstszene und seine wissenschaftlichen Forschungen in den Fokus rückt. Getrieben von der Suche nach alternativen Zugängen zur Welt, interessieren ihn Kontaktzonen, in denen Künstler und Anthropologen sich mischen, verweisen doch beide auf eine relationale Wahrnehmung des Anderen und des Selbst. Für Oppitz boten Köln und das Rheinland hierzu den wohl denkbar besten Nährboden.

 

Geboren wird Michael Oppitz 1942 inmitten der Kriegs-wirren in einem kleinen Dorf im Riesengebirge. Nach dem Krieg landet die Familie in Lindenthal. 1960 absolviert er sein Abitur, um unmittelbar darauf die Welt zu erkunden. Ein Schiff bringt ihn nach Amerika, wo er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält — als Holzfäller in den Wäldern Kanadas und als Hotelboy in Vancouver. Die Begegnung mit einem Si-no-logen ermuntert ihn zur Aufnahme eines Studiums der Anthropologie in Berkeley, Kalifornien. Oppitz kommt in Kontakt mit der dortigen Beatnik-Szene. Für Jack Kerouac übersetzt er chinesische Schriftzeichen auf dessen Opiumpfeife.

 

Nach einem Jahr kehrt Oppitz ins Rheinland zurück und setzt sein Studium in Bonn und Köln fort. Doch schon 1965 packt ihn erneut das Fernweh, er will die als stickig empfun-de-ne Atmosphäre des Wirtschaftswunderlands hinter sich lassen und bricht nach Kathmandu auf. Zum Flughafen begleiten ihn engste Freunde, die Fotografin Candida Höfer und sein ehemaliger Schulkamerad, der zukünftige Kunststudent Lothar Baumgarten. Nach seiner Rückkehr im Jahr darauf verfasst Oppitz mit der »Geschichte und Sozialordnung der Sherpa« sein erstes Buch. In der Zwischenzeit hat sich im Rheinland eine überaus agile Kunstszene entwickelt. In Opposition zur Pop-Art-lastigen Documenta 4 in Kassel hatte der 24-jährige Kölner Psychologie-Doktorand Friedrich W. Heubach das mittlerweile legendäre Kunstmagazin Interfunktionen gegründet, welches ein deutlich breiteres Spektrum der aktuellsten Kunst-strömungen vorstellen sollte. Zu den Weggefährten, die Heubach um sich schart, gehören schon bald der Beuys-Schüler Lothar Baumgarten, Candida Höfer und eben Michael Oppitz, der die Zeitschrift mit Textbeiträgen versorgt. Oppitz in einem Rückblick: »Man mochte einander, man ging in die gleichen Lokale, auf die gleichen Ausstellungen, in die gleichen Filme und Konzerte, setzte sich bevorzugt an die gleichen Tische und tauschte Beobachtungen und Wahrnehmungen unter-einander aus. Man teilte gewisse Ansichten und Wertschät-zungen und viele, sehr viele Abneigungen. Man segelte auf gleicher Wellenlänge durch die Gegenwart.« Es entstanden Freundschaften, die das jugendliche Aufbegehren überdauert haben, ihre Ausdauer aber nicht zuletzt aus eben dieser Motivation beziehen.

 

1972 markiert die Ausstellung des belgischen Künstlers Marcel Broodthaers in der Kunsthalle Düsseldorf einen Einschnitt. Unter dem Titel »Der Adler vom Oligozän bis heute« waren aus allen Kunst-, Kultur-, Trivial- und Naturbereichen Dinge zusammengetragen, die mit dem Adler als Emblem zu tun hatten und stets die Aufschrift trugen: Dies ist kein Kunstwerk. Die Ausstellung setzte Maßstäbe für eine Kunst, die ihre institutionellen und -ökonomischen Bezüge reflektiert und ironisch bricht. Baumgarten und Oppitz sprach dies unmittelbar an. Einen Text von Oppitz zur Installation übernimmt Broodthaers in seine Katalogpublikation. Für eine Ausstellung in der Galerie von Konrad Fischer konzipieren Oppitz und Baumgarten als Hommage eine Art Fortsetzung und veröffent-lichen ein gemeinsames Künstlerbuch. »T’e-ne-t’e«, so der Titel (mit dem Zusatz »Eine mythologische Verführung«), bedeutet »Adler-Chef« und ist der Name eines berühmten Mythenerzählers und Kiowa-Häuptlings. In der aktuellen Ausstellung im Kolumba gehört dieses Buch zu den Ex-ponaten. Genauso wie die Vorarbeiten eines weiteren gemeinsamen Filmprojekts »Der Rabe und der Kojote«, das jedoch nicht mehr realisiert wurde.

 

Denn Michael Oppitz hatte Köln mittlerweile Richtung London verlassen und arbeitete an seiner Dissertation über die strukturale Anthropologie. Sie stellte in Deutschland erstmals umfassend das Werk des französischen Kulturanthropologen Claude Lévi-Strauss vor. Mit diesem theoretischen Rüstzeug im Gepäck bricht Oppitz schließlich 1977 erneut in Richtung Himalaya auf, diesmal in Begleitung einer Crew, mit der er den Film »Schamanen im Blinden Land« dreht, der bis heute seinen Ruhm begründet.

 

Über einen Zeitraum von insgesamt 18 Monaten verfolgt Oppitz intensiv das Leben des bis dahin kaum erforschten Volksstammes der Magar in den Tälern und Hochebenen des nördlichen Nepals. Dieser ethnografische Dokumentarfilm beschreibt in fast vierstündiger Länge die religiösen Praktiken und deren Bedeutung für die Menschen im 2000-Seelen-Dorf. Als zentrales Utensil fungiert hierbei die Trommel. Der Magar-Schama-ne benutzt die Trommel zum Orten der Spuren einer verloren-gegangenen Seele. Sie dient ihm zur Begleitung der Rezitation von Mythen; zur rhythmischen Untermauerung seiner Tanz-bewegungen; zur bildlichen Mimesis der kosmischen Reise; als auslösender Reiz, um in Trance zu fallen.

 

Oppitz‘ Aufnahmen nehmen sowohl die beeindruckende Landschaft als auch intimste Momente inmitten des kul-tischen Geschehens in den Blick. Als Meilenstein der visuellen Anthropologie zählt das Opus auch, weil Oppitz nicht zuletzt filmästhetisch denkt und schaut. Für ihn gilt: »Schärfe des Blicks, Empathie, Originalität des sprachlichen Ausdrucks: In dem originären Blick auf die Sache und ihre Spiegelung in der Ausdrucksform sehe ich die Brücke zwischen Ethno-lo-gie und Kunst.« In New York wurde der Film 1980 uraufgeführt. Er erreichte in Kunstkreisen, etwa für Joseph Beuys oder Sigmar Polke, Kultstatus. Kaum ein an-derer Film doku--mentiert so präzis hochkomplexe Rituale und ist zugleich so sinnlich und spannend. Neben einem exquisiten Mu-seums--bestand an Schamanentrommeln aus St. Petersburg nebst erläuternden Schautafeln erhält die Vorführung die-ses Films auch im Kolumba einen prominenten Platz. Die Genese des Films und die Arbeitsweise von Oppitz können zusätzlich anhand von Diaprojektionen und Tondokumenten nachvollzogen werden.

 

Heute lebt er als weiterhin unangepasster Freigeist in Berlin. Den subversiven Schalk und die rheinische Frohnatur hat er sich bewahrt. Augenscheinlich wird dies in der Ausstellung nicht zuletzt durch Fotografien von Candida Höfer, die Oppitz in voller Montur eines Schamanen ablichtete. Parodie und Verkleidung sind Programm. Schon eine Aufnahme aus dem Jahr 1972 zeigt Oppitz und Baumgarten als aufgeplusterte koloniale Urwaldforscher. Das Foto entstand im Botanischen Garten in Berlin-Dahlem und trägt den Titel »Wir erobern den Kontinent im Dunst einer 10 Pfennig-Zigarre«. Die Ausstellung und der begleitende Katalog bieten ein mustergültiges Beispiel, wie Wissenschaft und Kunst einander bedingen, befruchten und sich jeweils produktiv selbst in Frage stellen können — durch den Blick aus der Warte des jeweils anderen.