»Höchst ungewöhnlich«: Baugrube am Waidmarkt, Foto: Manfred Wegener

Kleines Loch, große Folgen

Im Archivprozess legt sich der Gerichtsgutachter

auf einen Baufehler als Einsturzursache fest

 

Manchmal geht es dann doch schneller als gedacht. Schon im Mai verkündete Richter Michael Greve überraschend, das Abschlussgutachten zum Archiveinsturz sei nun fertig. Und er verriet auch gleich das Ergebnis: Der vom Kölner Landgericht bestellte Sachverständige Hans-Georg Kempfert sieht einen Fehler beim Bau der U-Bahnhaltestelle Waidmarkt, die an das Archiv angrenzte, als Ursache an. Durch ein nur etwa 60 Zentimeter breites Loch in einer Schlitzwand seien am 3. März 2009 schlagartig große Mengen Erdreich und Wasser in die Baugrube gedrungen und hätten dem benachbarten Stadtarchiv den Boden entzogen. Kempfert bestätigt damit eine Theorie, die schon seit Sommer 2012 kursiert, als die fehlerhafte Stelle im U-Bahnbauwerk erstmals dokumentiert wurde. Auch die Staatsanwaltschaft im seit Januar laufenden Strafprozess stützt sich darauf.

 

Eigentlich hatte Kempfert noch im Herbst 2017 gesagt, dass die Untersuchungen an der Einsturzstelle bis mindestens 2020 andauern werden. Dass er nun früher fertig ist, macht eine Verurteilung der Angeklagten wahrscheinlicher. Der Prozess steht unter Zeitdruck: Wenn bis zum 2. März 2019 kein Urteil fällt, sind etwaige Straftaten verjährt. Im Landgericht sitzen noch vier Beschuldigte auf der Anklagebank, zwei Bauleiter der ausführenden Baufirmen und zwei Bauüberwacher der Kölner Verkehrsbetriebe. Ihnen wird fahrlässige Tötung, den Bauleitern zusätzlich Baugefährdung vorgeworfen. Ihre Verteidiger hingegen meinen, ein hydraulischer Grundbruch habe zum Einsturz geführt, also eine Art Naturereignis.

 

Gegen einen Polier und einen Baggerfahrer, die für den eigentlichen Pfusch an der Schlitzwand verantwortlich sein sollen, wird zurzeit nicht mehr verhandelt. Beide sind zu krank, das Verfahren gegen sie wurde abgetrennt. Sie sollen bereits im Jahr 2005 beim Bau der Schlitzwand auf ein Hindernis gestoßen, dies aber nicht beseitigt haben, wodurch die Betonwand die folgenschwere Fehlstelle bekam. Aber es kommen auch neue Angeklagte dazu: Am 2. August wird ein Verfahren gegen einen Oberbauleiter eröffnet, ebenfalls wegen fahrlässiger Tötung und Baugefährdung. Den Anlass dazu gaben Erkenntnisse aus dem aktuell laufenden Verfahren.

 

Im Juli legte Kempfert mehrere Tage lang vor Gericht dar, wie es nach seiner Ansicht zum Einsturz gekommen ist. Dennoch könnten sich Hoffnungen auf ein baldiges Urteil als vorschnell erweisen. Denn noch immer ist die Vorgeschichte des Einsturzes verworren. Da die U-Bahnhaltestelle »in offener Wasserhaltung« ohne unteren Abschluss gebaut wurde — dies ist die günstigste Bauweise —, musste das Grundwasser mit Brunnen abbefördert werden. Das wollte aber nicht so recht funktionieren, immer mehr Brunnen mussten gebaut werden. Sachverständige hatten schon kurz nach dem Einsturz eine außer Kontrolle geratene »Wasserhaltung« als Einsturzursache vermutet. Auch im Strafprozess sagten wieder Zeugen zum Thema aus. Am 13. Juli wurden Fotos aus dem Jahr 2008 gezeigt. Zu sehen war eine Sandbank im Rheinauhafen, erwachsen aus Sand, der zusammen mit dem Grundwasser aus der Baustelle am Waidmarkt abgepumpt wurde. Ein Zeuge berichtete am 13. Juli von einer zerstörten Vereisungsanlage an der Baustelle für die U-Bahnhaltestelle Severinstraße. Ursache: Sandförderung vom Waidmarkt.

 

Klaus H., ein weiterer Zeuge, erinnerte sich, wie er am 7. Oktober 2008, rund fünf Monate vor dem Einsturz, für ein Bodengutachten die Baugrube am Waidmarkt besichtigte. Er wunderte sich über Wasser, das aus dem »Ringraum« eines Brunnens austrat, der zudem auf einer Anhöhe lag. Weiter unten war der Boden trocken. Das sei »höchst ungewöhnlich« gewesen. Wurde über Jahre dem Archiv langsam der Boden entzogen? Doch der Gutachter konzentriert sich auf das Loch als Einsturzursache: ohne
die Fehlstelle kein Einsturz, so Kempfert.

 

Der Zeuge Klaus H. erkundigte sich angesichts des ungewöhnlichen Wasserlaufs bei den Baufirmen, ob es womöglich undichte Stellen in der Baugrube gebe. Dies habe man ausgeschlossen, gab man ihm zur Antwort. So entging ihm der womöglich entscheidende -Hinweis auf die löchrige Schlitzwand. Vier Jahre lang existierte das Loch. Niemand sah es — oder wollte es sehen.