#UsToo

Im Roman »Nichts, was uns passiert« erzählt Bettina Wilpert von einer

Vergewaltigung in der linken szene

 

 

Bettina Wilpert hat nicht viel Zeit in diesen Tagen. Seit ihr Debüt-Roman »Nichts, was uns passiert« im Februar dieses Jahres erschienen ist, tourt sie von Lesung zu Lesung, quer durch die Republik. Ihr Werk polarisiert, auch weil es mit seiner Geschichte — eine Vergewaltigung in der linken Szene — das Herz der aktuellen #MeToo-Debatte getroffen hat. Als »Start zu einer Schriftstellerlaufbahn, die den Namen verdient« feierte die Zeit ihr Erstlingswerk. Der Deutschlandfunk resümierte dagegen trocken: Wilpert hätte statt eines Romans lieber eine »Materialsam-mlung für den Gesellschaftsunterricht in der Mittelstufe« gemacht. Wer ist die junge Autorin, deren erste Veröffentlichung so unterschiedliche Reaktionen auslöst? Im Zug auf dem Weg zu einem Festival erreichen wir Bettina Wilpert für ein Gespräch am Telefon. 

 

In »Nichts, was uns passiert« lernen sich Anna und Jakob, beide aus der linken Studierenden-Szene, in der Universitätsbibliothek in Leipzig kennen. Mehr aus Langeweile als aus echtem Interesse entwickelt sich zwischen ihnen eine kurze Affäre — bis zu jenem Abend während der Fußball-WM 2014. Anna sagt, sie sei vergewaltigt -worden. Jonas sagt, es sei einvernehmlicher Sex gewesen. Nach zwei Monaten und der Verzweiflung nahe, erstattet Anna Anzeige, doch bald steht im Freundeskreis das Wort »Falschbeschuldigung« im Raum.

 

»Inspiriert zu dieser Geschichte hat mich die Aktion ›Carry that weight‹«, erinnert sich Bettina Wilpert. Die US-amerikanische Studentin Emma Sulkowicz schleppte im August 2014 wochenlang ihre Matratze über den Campus der Columbia University — aus Protest dagegen, dass ihr mutmaßlicher Vergewaltiger noch immer an derselben Universität studierte wie sie. »Im Urlaub mit Freundinnen haben wir damals lange über eine Reportage diskutiert, die die Perspektive des angeblichen Täters öffentlich machte«, erzählt Wilpert. »Irgendwann habe ich gedacht: Warum hat darüber eigentlich noch niemand ein Buch geschrieben?«

 

In Wilperts Debütroman schildert eine namenlose Erzählstimme die Ereignisse. Aus den Geschehnissen der Nacht und den darauf folgenden Monaten versucht sie, die Fäden der Erzählungen zu entwirren. Einige Textpassagen werden im Roman wie Transkripte abgedruckt, in denen neben Anna und Jonas auch deren Freunde und Familienangehörige zu Wort kommen. War es eine Vergewaltigung? Oder hat der Alkohol Annas Erinnerungen an diesen Abend verzerrt? Wilpert schafft den unterschiedlichen Stimmen der Geschichte Gehör, bis man nicht mehr weiß, was man glauben soll.

 

Für die Autorin, geboren 1989, aufgewachsen bei Altötting in Bayern, ist es gerade dieses Verwirrspiel mit Identitäten, Erinnerungen und Erzählungen, das den Reiz vieler Geschichten ausmacht. Bereits in ihrem Abschlussprojekt vor zwei Jahren im Studiengang »Literarisches Schreiben« an der Universität Leipzig schrieb sie eine multi-perspektivische Geschichte über eine Figur, die in unterschiedlichen Realitäten lebt. Was ihren Debüt-Roman angeht, so Bettina Wilpert, seien die Dinge aber eindeutiger: »Für mich ist klar, was in dieser Nacht passiert ist.« Doch warum Jonas die Vergewaltigung von sich weise, verstünde sie noch immer nicht: »Lügt er unbewusst oder entfremdet er sich absichtlich von der Tat, um sein Selbstbild zu schützen?«

 

Bettina Wilpert spricht über die Figuren ihres Romanes, als seien es vertraute Bekannte. Manche Szene, sagt sie, lese sie bei öffentlichen Veranstaltungen heute nicht mehr vor. Zu groß sei der Schmerz und die Enttäuschung über das Verhalten der Protagonisten. Von ihren Lesern würde ihr dagegen häufig der Vorwurf gemacht, sie gebe dem Täter in der Geschichte zu viel Raum. »Mir war von Anfang an wichtig, beide Perspektiven im Buch darzustellen — auch um Jonas als mutmaßlichem Täter eine Sprache zu geben«, erzählt sie. Die aktuellen Auseinandersetzungen mit sexualisierter Gewalt gingen ihr an dieser Stelle nicht weit genug: »Die MeToo-Debatte, aber auch andere Aktionen wie die Hashtag-Kampagne #Ichhabenichtangezeigt sind wichtig, weil sie Betroffenen eine Stimme geben, um ihre Erfahrungen von sexualisierter Gewalt öffentlich zu machen.« Jedoch blieben die Täter, so Wilpert, in den meisten Fällen stumm, dabei müssten doch gerade sie sich mit ihrer Tat auseinandersetzen.

 

In »Nichts, was uns passiert« übernehmen die Auseinandersetzung mit der mutmaßlichen Vergewaltigung andere: Nachdem sich die Nachricht in der linken Szene in Leipzig herumgesprochen hat, wird Jonas gemieden. Er bekommt Hausverbote, darf nicht mehr an Gruppen-plena teilnehmen, wird eines Tages sogar von zwei Personen aus der Mensa der Universität verwiesen — weil er bei ihnen Erinnerungen an Gewalterlebnisse wachrufe. »Auch in der linken Szene ist die Frage, wie man mit Tätern von sexualisierter Gewalt umgeht, noch nicht abschließend geklärt«, findet Bettina Wilpert. »Zugespitzt« nennt sie die Art, wie sie Jonas’ Verstoß aus dem Freundeskreis im Roman beschreibt — aber eben auch realistisch. Wilpert, die sich selbst jahrelang mit feministischen Konzepten wie dem der Definitionsmacht beschäftigt hat, übt am Umgang mit Tätern harte Kritik: »Betroffene müssen selbst definieren, was sexualisierte Gewalt ist, aber dabei darf die Auseinandersetzung innerhalb der Gemeinschaft, in der die Grenzüberschreitung verübt wurde, nicht stehen bleiben.«

 

Wilpert fordert einen offensiven Umgang mit Tätern, zum Beispiel nach dem Konzept der »Community Accountability«. Die aus den USA stammende Strategie will Gemeinschaften einen neuen Umgang aufzeigen: Betroffene von Gewalt sollen einerseits geschützt werden, andererseits aber auch die Täter verpflichtet werden, Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen — zum Beispiel, indem sie Angebote zur Wiedergutmachung für die verübte Grenzüberschreitung machen. Im deutschsprachigen Raum ist dieser Zugang bislang selten. Allein in Deutschland gibt es seit 2011 eine aktive Gruppe, die sich auch öffentlich mit dem Konzept auseinandersetzt, Multiplikatoren ausbildet und Vorträge auf Konferenzen hält.

 

»Mit dem Buch wollte ich bei den Lesern auch die Frage aufwerfen, wie sie sich selbst als nahestehende Person in einem solchen Fall verhalten würden«, sagt Bettina Wilpert. Juristisch hat Annas Anzeige im Buch übrigens keine Konsequenzen. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein. Die Begründung: Man habe nicht beweisen können, dass Jonas Gewalt angewendet habe, um Anna zum Geschlechtsverkehr zu zwingen. Nach dem neuen Sexualstrafrecht, das seit November 2016 in Kraft ist, wäre diese Begründung nicht mehr zulässig. Es gilt seitdem die »Nein-heißt-Nein-Regelung«: Für ein Verfahren reicht heute der »erkennbare Gegenwille«, doch auch diese Reform bietet neue Fallstricke bei der Rechtsfindung.

 

»Ich habe in dem Buch keine persönlichen Erlebnisse verarbeitet, trotzdem war die Arbeit oft schmerzhaft und anstrengend«, sagt Wilpert, bevor ihr Zug im nächsten Bahnhof einfährt und sie umsteigen muss. An diesem Wochenende steht keine Lesung an, spätestens im Herbst will sie eine Pause einlegen, um Zeit für neue literarische Projekte zu haben: ein paar Erzählungen, vielleicht ein neuer Roman. »Ich möchte gern mal ein Buch schreiben, das in Bayern spielt«, sagt sie noch. Dann hält der Zug und sie zieht weiter.