Prachtwerk der Agitation

Der bedeutende Stummfilm Die Stadt ohne Juden konnte nur

durch eine Crowdfunding-Kampagne gerettet werden

Als der Zahntechniker Otto Rothstock am 10. März 1925 fünfmal auf den progressiv-sozialreformerisch gesonnenen Journalisten und Schriftsteller Hugo Bettauer schoss, gab es genug Reaktionäre, Pharisäer und Indifferente in allen gesellschaftlichen Schichten, die diesen Anschlag stillschweigend, manchmal auch lautstark gut-hießen. Rothstocks Bluttat dürfte kaum jemanden überrascht haben: Seit Bettauer 1924 mit der Publikation von »Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik« begonnen hatte, hagelte es nicht nur Prozesse, sondern auch unverhüllte Mordaufrufe. Und wie das so ist, wenn eine Gesellschaft solche Wortmeldungen nicht sanktioniert: Irgendeiner, der zur Waffe greift, findet sich immer. Bettauer erlag Rothstocks Schüssen 16 Tage später.

 

Im Jahr 1924 erschien nicht nur die erste Ausgabe von »Er und Sie« sowie Bettauers »Die freudlose Gasse. Ein Wiener Roman aus unseren Tagen«, den Georg Wilhelm Pabst im Folgejahr verfilmen sollte, sondern auch die Verfilmung von »Die Stadt ohne Juden«, eine vom Expressionismus inspirierte Adaption von Bettauers zwei Jahre zuvor erschienener dystopischer Satire. Darin beschreibt der Autor, ein zum Christentum konvertierter Jude, ein zukünftiges Wien, dessen von Existenzängsten gepeinigte, medial verhetzte Bürger per Ratsbeschluss sämtliche Juden aus der Stadt vertreiben lassen — nur um dann ihre eigene radikale Provinzialisierung miterleben zu müssen.

 

Bettauer schenkt in »Die Stadt ohne Juden: Ein Roman von übermorgen« seinen Zeitgenossen nichts: Die Parteien der Stunde (NSDAP inklusive) werden genannt, auch die politischen Macher lassen sich leicht in den Personen der Handlung aus der zweiten Reihe erkennen. Regisseur Hans Karl Breslauer hingegen, wohl auch der angestrebten internationalen Wirkung und Verkaufbarkeit halber, belässt das alles eher im Allgemeinen, den Handlungsort eingeschlossen — selbst wenn der gut an bestimmten Gebäuden zu erkennen ist. Politische Spitzen wurden etwas abgestumpft und moralisch Heikles auch mal ausgelassen: So trauern die Huren nicht mehr den spendablen Juden nach, ein, vorsichtig gesagt, vielseitig interpretierbares Bild.

 

Die Stadt ohne Juden war lange Zeit mehr filmhistorisches Faktum denn erlebbares Kino: Nach seinem Start verschwand dieses Prachtwerk der Agitation in formal avancierter Gestalt rasch wieder, zum Teil, weil es inopportun war, zum Teil, weil es überschattet wurde sowohl von Pabsts politisch besser verdaulichem »Die freudlose Gasse« als auch von Robert Wienes allen Expressionismus in sich vereinigenden »Das Cabinet des Dr. Caligari« (1920). In den frühen 90er Jahren fand man in den Niederlanden eine unvollständige Kopie, 2015 tauchte dann auf einem Pariser Flohmarkt eine Kopie des kompletten Werks auf, das dann mit Geld aus einer Crowdfunding-Kampagne digital restauriert wurde. Dieses — leider wieder sehr zeit-gemäße — Werk darf man zum Abschluss der diesjährigen Inter-nationalen Stummfilmtage Bonn bewundern.

 

 

 

 

34. Internationale 

Stummfilmtage Bonn

 

Keine Experimente. Das Programm der Internationalen Stummfilmtage bietet auch dieses Jahr eine bewährt gute Mischung: die üblichen drei bis fünf Klassiker in digital aufgepimpter Gestalt wie Friedrich Wilhelm Murnaus »Faust«, einige Meisterwerke von weniger bekannten, aber absolut fundamentalen Filmemachern wie Georg Wilhelm Pabst (»Abwege«, 1928), Clarence Brown (»Es war«, 1926) und Gosho Heinosuke (»Die Tänzerin von Izu«, 1933) und viele nicht ganz so filmhistorisch kanonisierte Gustostücke für Entdeckungsfreudige. Vorneweg: Routinier Lambert Hillyers »Planwagen nach Santa Fe« (1919), in dem das Bonner Publikum den ersten Kinocowboy William Surrey Hart erleben darf. Wichtiger ist Regiegott Friedrich Ermlers Monument »Der Mann, der das Gedächtnis verlor« (1929), das von einem gedächtnisverlustgeplagten Veteranen des Ersten Weltkriegs erzählt, der in eine neue Welt namens UdSSR taumelt und dort durch den Einfluss des helfenden Proletariats wieder zu Sinnen findet. Hier — und nur hier — werden protosozialistischer Realismus und formales Experiment, Maxim Gorki in Gehalt und George Grosz in Form, zu einem unteilbaren Ganzen. Dem gebührt ein ganz anderer Platz in der Filmgeschichte, als er ihn bisher hat. Was man vielleicht auch über Albert Edward Sutherlands exzellente Komödie »Ein moderner Glücksjäger« (1926) mit dem unvergleichlichen Misanthropen W.C. Fields und der noch unvergleichlicheren Menschenfreundin Louise Brooks sagen muss.

 

Zum Schluss sei noch auf einen der wunderbarsten Kurzfilme aller Zeiten hingewiesen: Alexander Hackenschmieds Ode an das Flanieren »Spaziergang ins Blaue« (1930), der als Vorfilm zu »Die Tänzerin von Izo« gezeigt wird. Außerdem sei die vorfreudige Frage gestellt: Was mag es wohl mit den zwei schwedischen Filmen auf sich haben, der Kurzdokumentation »Unser Kronprinzenpaar in Hollywood« (1926) und Ivan Hedqvists im Rheinland gedrehter Heinrich-Heine-Bebilderung »Die Wallfahrt nach Kevelaer« (1921)?