Die Filmkunst spielt mit den Schmuddelkindern

Das Fantasy Filmfest vereint mit einem herausragenden

Programm Kunst und Kommerz

Hier die hehre Filmkunst, dort die niedere Genreware: die billigen Horrorfilme, die brutalen Thriller, die eskapistischen Science-Fiction. Diese Trennung lässt sich natürlich schon lange nicht mehr aufrechterhalten. Das Programm des diesjährigen Fantasy Filmfests beweist aber besonders eindrucksvoll, wie obsolet solche Unterscheidungen sind. An einer Zahl lässt sich das gut ablesen: Ungefähr ein halbes Dutzend Filme im Programm dieses doch eigentlich als Alternative zur Arthouse-Bürgerlichkeit gegründeten Festivals feierten im Mai Weltpremiere auf dem Filmfestival von Cannes, der prestigereichsten Veranstaltung dieser Art.

 

Doch vielleicht widerspricht sich das ja gar nicht, denn was seit einigen Jahren Arthouse genannt wird, ist längst zerfallen in das Neo-Biedermeier französischer und skandinavischer Erfolgskomödien, Best-Ager-Dramen und pädagogisch wertvoller Zeitgeschichtsstoffe auf der einen Seite und das so genannte »Festivalkino« auf der anderen. Letzteres wagt im besten Falle wirklich etwas, formal wie inhaltlich, zeigt neue Perspektiven auf, provoziert auch gerne und verstört. Hier gibt es Verwandtschaften zu den Schmuddelkindern aus der Familie des fantastischen Kinos.

 

Ein Beispiel ist »Border«, der in Cannes den Hauptpreis in der Nebensektion Un certain regard gewonnen hat. Erzählt wird im Kern die Geschichte einer Selbstfindung, ein beliebter Topos im Arthouse-Kino der letzten Jahre. Allerdings radikalisieren Regisseur Ali Abbassi und Isabella Eklöf, die zusammen das Drehbuch geschrieben haben, durch eine Wendung ins Fantastische die Selbstentfremdung der Hauptfigur, einer schwedischen Zollbeamtin mit geradezu übersinnlichen Fähigkeiten Schmuggler zu »erschnüffeln«. Herausgekommen ist ein Horrorfilm, der in der besten Tradition des Genres das Monster zum emotionalen Zentrum macht, zugleich aber anders als im Exploitation-Kino Effekthascherei meidet.

 

Den umgekehrten Weg geht Panos Cosmatos mit dem ebenfalls in Cannes gezeigten »Mandy« — schon jetzt der Kultfilm des Jahres. Die Geschichte ist B–Movie-Standard: Ein Mann nimmt Rache an den Entführern seiner Frau. Doch die filmische Form könnte kaum extravaganter sein: Der Sohn von »Rambo 2«-Regisseur George Pan Cosmatos macht aus dem simplen Plot ein psychedelisches Filmrausch-erlebnis, das seinesgleichen sucht. Dabei bedient er sich freimütig sowohl bei der Tradition des Experimentalfilms als auch bei der hyperkitschigen Ästhetik von Fantasy-Groschenromanen. In der Hauptrolle gibt Nicolas Cage eine Art Meta-Performance: Sie wirkt weniger um Realismus bemüht, sondern eher auf seine Berühmtheit als Youtube-Star abgestimmt, die er durch millionenfach angeklickte Zusammenschnitte seiner Filmauftritte mit Titeln wie »Nicolas Cage Losing His Shit« erworben hat: Chargieren als eigene Kunstform — was perfekt zu Cosmatos flamboyanter Regie passt.

 

Ähnlich exaltiert und over the top ist Gaspar Noés »Climax«: In der ersten Hälfte ein mitreißender Tanzfilm, entwickelt er sich in der zweiten Hälfte zu einem rasenden Blutrausch. Angeblich nach einer wahren Geschichte erzählt der argentinisch-französische Regisseur von einer Gruppe Tänzer, die in einem abgelegenen Saal in den Bergen proben und Party feiern, bis sie plötzlich in eine — durch Drogen verursachte? — kollektive Paranoia verfallen. Die Story ist minimal. Der Film lebt von den unglaublich dynamischen Street-Style-Tanzszenen des multikulturellen Casts, der treibenden elektronischen Musik und den lebendig-realistischen Dialogsequenzen.

 

Ebenso modern, aber vom Plot her alles andere als minimalistisch ist David Robert Mitchells »Under The Silver Lake«, der im Wettbewerb von Cannes seine Weltpremiere feierte. 2014 hatte der Amerikaner mit seinem atmosphärisch an 80er Jahre Horror-Klassiker erinnernden »It Follows« für Aufsehen gesorgt, jetzt wendet er sich dem Film noir zu. Genauer: dem Neo noir. So wie Regisseure wie Arthur Penn, Alan Pakula oder Robert Altman das Genre in den 70er Jahren für die desillusionierte Hippie-Generation aktualisierten, so modernisiert Mitchell dieses Vorbild wiederum für die Post-Weltwirtschaftskrisen-Millennials von heute.

 

Andrew Garfield spielt einen jungen, leicht verpeilten Mann, der sich in eine mysteriöse Nachbarin (Elvis-Enkelin Riley Keough) verknallt, die ebenso plötzlich verschwindet, wie sie aufgetaucht war. Auf der Suche nach der Femme fatale, irrlichtert er durch ein L.A. voller Verschwörungstheoretiker, obskuren Kulten, reichen Hipsterkids und abgehalfterten Künstlern. Ob die Geschichte am Ende aufgeht, ist nicht der Punkt — wer könnte schon den Plot des Noir-Überklassikers »The Big Sleep« (1946) nacherzählen? Das Tolle an Mitchells Film ist gerade, dass er sich den Luxus erlaubt, zu mäandern, Umwege zu nehmen, nicht auf den Punkt zu kommen. So bekommt er tatsächlich etwas von der Gegenwart in ihrer verwirrenden Komplexität zu fassen — natürlich überzeichnet und mit einer Menge Glamour angereichert. 

 

In Cannes hatte der Film eine Länge von 139 Minuten. Danach hieß es in der Fachpresse, »Under the Silver Lake« solle massiv umgeschnitten und gekürzt werden: Man kann nur hoffen, dass das nicht passiert ist und das Fantasy Filmfest diesen Film zur Zeit in seiner vollen labyrinthischen Pracht zeigen wird.

 

Infos: fantasyfilmfest.com