Vor dem Oberlandesgericht in München halten Aktivisten der Kampagne »Kein Schlussstrich« Zeichnungen mit den Gesichtern der Mordopfer des NSU in die Höhe | Foto: Christian Werthschulte

Eine Botschaft für die Zukunft

Am 11. Juni ist nach über fünf Jahren der NSU-Prozess in München zu Ende gegangen. Opfer, Angehörige und Unterstützer zeigen sich enttäuscht vom Urteil. Für sie ist die Aufarbeitung und Bekämpfung von Rechtsterrorismus damit nicht beendet

Es sollte ein lauter Protest werden, aber er begann mit einer Minute Stille. Vor dem Ober­landes­gericht in München halten Aktivisten der Kampagne »Kein Schluss­strich« Zeichnungen mit den Gesichtern der Mordopfer des National­sozialistischen Unter­grunds (NSU) in die Höhe. »Wir trauern um …«, sagt eine Sprecherin auf der Bühne der Kund­gebung, dann berichtet sie aus dem Leben jedes einzelnen der zehn Toten: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet ­Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiese­wetter. Es ist der 11. Juni 2018 – »Tag X«, wie ihn die Aktivisten nennen –, der Tag der Urteils­verkündung im NSU-Prozess.

 

»Das Urteil wird nicht zu unserer Zufrieden­heit aus­fallen«, erklärt ein Mitglied der Initiative »Keup­straße ist überall« am Vor­abend. Es sind nicht seine Worte, sondern die von Arif S., der auf der Keup­straße ein Einzel­handels­geschäft führt. Fünf Jahre lang haben sich bei »Keupstraße ist überall« linke Aktivisten mit Bewohnern der Straße in Mülheim getroffen. Sie haben eine Film­reihe in türkischen Restaurants ver­anstaltet, haben auf Podien in ganz Deutsch­land gesessen und waren dabei, als im vergangenen Sommer das Tribunal »NSU-Komplex auflösen« im Schau­spiel Köln stattfand. Ihrer Meinung nach hat der NSU einen größeren Unter­stützer­kreis in der deutschen Neo­nazi-Szene, als die vier Personen, die in München wegen der Unter­stützung der terroristischen Ver­einigung vor Gericht stehen. Immer wieder sind sie deshalb zum NSU-Prozess gefahren – so auch diesmal. Als Neben­kläger ist Arif S. schon einen Tag vorher nach München gereist, dennoch hat er ein Gruß­wort für die rund zwanzig Besucher aus Köln geschrieben: »Das Wichtige ist, dass wir uns gemein­sam dafür ein­setzen, dass das Thema NSU nicht mit diesem Urteil beendet wird.«

 

Morgens um sieben Uhr kommt der Bus aus der Keup­straße in München an. Erstes Ziel: Plätze in der Schlange vor dem Ober­landes­gericht reservieren, damit die Angehörigen der Keup­straßen­anwohner auch in den Gerichts­saal können. Aber die Schlange ist schon jetzt zu lang, um eine Chance zu haben. Sehr weit vorne steht statt­dessen der verurteilte Rechts­terrorist Karl-Heinz Statz­berger aus München mit ein paar Kameraden. Sie werden während der Urteils­verkündung auf der Tribüne im Gerichts­saal sitzen.

 

Für die Prozess­teil­nehmer gibt es zwei Eingänge: Wer Anonymität haben will, benutzt den hinteren, für den Rest beginnt vor dem Gebäude ein eingeprobtes Ritual. Sobald jemand auch nur entfernt türkei­stämmig aussieht, stürzen sich Foto­grafen, Kamera­personal und Korres­pon­denten auf die Person: Sie könnte ja ein NSU-Opfer sein. Trägt jemand Akten­tasche, Anzug und einen frischen Haar­schnitt wird er ebenfalls im Bild ein­ge­fangen. Als Arif S. und Kemal G. von der Keup­straße gemein­sam mit dem Anwalt Axel Hofmann über den Vorplatz schreiten, nimmt kaum jemand von ihnen Notiz. Sie tragen Sneakers, Jeans und Hemd – zu unauf­fällig für die Kameras.

 

Wie groß war der Kreis der Unterstützer tatsächlich?

Der Beginn der Verhandlung verzögert sich, aber um kurz vor zehn wird das Urteil verkündet. Beate Zschäpe erhält lebens­lang bei besonderer Schwere der Schuld. Der ehe­malige NPD-Funktio­när Ralf Wohl­leben kommt mit zehn Jahren davon, obwohl er dem NSU eine Schuss­waffe organi­sierte und laut Bundes­anwalt­schaft von den Morden wusste. Für André Eminger, der für die NSU-Terroristen eine Wohnung anmietete und ihnen Doku­mente organi­sierte, hatte sie eine Haft­strafe von zwölf Jahren für Bei­hilfe zum Mord und der Unter­stützung einer terroris­tischen Ver­einigung gefordert. Aber das Gericht sieht nur letzteres als bewiesen an, Eminger erhält eine Haft­strafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Gegen ihn und Wohl­leben werden bald darauf die Haft­befehle auf­gehoben. Vor dem Gericht kommen laute Buh­rufe auf. »Das Gericht möchte den Unter­stützer­kreis viel kleiner machen, als er war«, sagt Neben­klage-Anwalt Alexander Hoff­mann, der in den niedrigen Haft­strafen eine Verschleierungs­taktik des Gerichts sieht: Wenn schon Wohl­leben und Eminger, also Personen aus dem engsten Umfeld des NSU, nichts von den Morden gewusst hätten, könne es auch keine anderen Mit­wisser gegeben haben, so die Logik des Gerichts. »Nazis können los­ziehen und über fast zwei Jahr­zehnte bewaffnete Personen unter­stützen und gehen mit zwei bis drei Jahren da raus«, erklärt er frustriert. »Das ist eine Auf­for­derung.«

 

Die Nazis geben ihm Recht. Als das Urteil für André Eminger verkündet wird, applau­dieren sie auf der Zuschauer­tribüne des Ober­landes­gerichts. Nicht weit von ihnen entfernt muss die Schwester des ermordeten Hamburger Lebens­mittel­händlers Süleyman Taşköprü sitzen. Weil sie keine offizielle Neben­klägerin ist, darf sie nicht bei ihrer Familie im Gerichts­saal sein. Ihr Bruder Osman hat den Prozess nur insgesamt dreimal besucht – es war zu schmerzhaft. Auch heute empfinden viele Angehörige der NSU-Opfer den Besuch als traumatisch. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl trägt aus­führlich und mit vielen juristischen Details aus seiner Urteils­begründung vor. Als er beim Mord an Halit Yozgat aus Kassel ankommt, der 2006 im Beisein von Andreas Temme, einem Mit­arbeiter des hessischen Verfassungs­schutzes, in seinem Internet­café per Kopf­schuss hingerichtet wurde, bricht es aus seinem Vater Ismail heraus: »Mein Gott, mein Gott«, ruft er auf Türkisch. Richter Götzl ermahnt ihn: »Ich möchte keine weiteren Störungen haben.« »Ich bin erschüttert«, sagt Arif S. vor dem Gerichts­gebäude über das Urteil. »Am Anfang hatte ich noch Hoffnung, aber mit jedem Prozess­besuch ist diese Hoffnung weniger geworden. Jetzt ist sie ganz verschwunden.«

 

»Wer kann nun mit Sicherheit sagen, dass es nicht noch mal passieren wird?« — Mitat Özdemir

Auch auf der Keupstraße selbst gab es eine Gedenkfeier. 100 Menschen sind gekommen, haben an einer Schweige­minute teil­genommen und das Urteil abge­wartet. »Die Urteils­verkündung wurde hier mit großer Ent­täuschung auf­genommen«, erzählt Mitat Özdemir am Telefon. Er betreibt einen Kiosk und war viele Jahre Vor­sitzender der IG Keup­straße. Jetzt treibt ihn die Sorge um, weitere Unter­stützer des NSU könnten unbe­helligt auf freiem Fuß bleiben. »Wer kann nun mit Sicherheit sagen, dass es nicht noch mal passieren wird? Die Angst ist noch da.«

 

Und diese Angst lähmt. Vor dem Gerichts­gebäude in München mischt sie sich mit Ent­täuschung und Trotz. Das bekommt auch die Kölner Indie-Band Kent Coda zu spüren, die von der Initiative »Keup­straße ist überall« einge­laden wurde, in München zu spielen. »Es gibt natürlich eine gewisse Freude, dass ähnlich denkende Menschen zusammen­kommen und Solida­rität zeigen, aber anderer­seits sehr viel Trauer, sehr viel Frust«, beschreibt Sänger Öğünç Kardelen seine Eindrücke. »Ganz ehrlich: Wir waren nicht so ganz sicher, mit welchem Gefühl wir unsere Lieder spielen sollten.« Nach ihrem Auftritt sitzen er und seine Band­kollegen auf dem Asphalt und hören den Rede­beiträgen der vielen Initia­tiven zu, die heute nach München gekommen sind. Sie alle begreifen den NSU als Element rassis­tischer Krimina­lität, die mit der Wieder­vereinigung einen Aufs­chwung genommen hat und sich aktuell in den Über­griffen auf Geflüchtete und ihre Unter­künfte zeigt. Deshalb haben sie die Anwälte der Neben­klage unter­stützt, sind in Antifa-Archiven auf die Suche nach Material gegangen, haben vor Ort nach Zeugen gesucht.

 

»Das Urteil ist ein Schlag ins Gesicht aller Betroffenen« — Ayşe Güleç

»Das Urteil ist ein Schlag ins Gesicht aller Betroffenen und aller, die in den verschiedenen Initia­tiven aktiv sind«, sagt Ayşe Güleç von der Kasseler »Initiative 6. April«, die die Ange­hörigen des 2006 in Kassel ermordeten Halit Yozgat unters­tützt. »Wir Initia­tiven müssen weiter um Aufklärung ringen. Wir können jetzt nur noch den zivil­gesell­schaft­lichen Kräften vertrauen, die weiter um Wahr­heit kämpfen werden.«

 

»Die Initiativen haben eine wahnsinnig wichtige Rolle im Prozess gespielt« — Mehmet Daimagüler

Auch der Anwalt Mehmet Daima­güler mischt sich unter das Publikum. Er setzt sich zu einer Gruppe Aktivisten und will einen Tweet posten. »Wie findet ihr ›Ein guter Tag für Nazis?‹« fragt er in die Runde. Gelächter. Der Tweet bekommt 174 Likes. »Die Initia­tiven haben eine wahn­sinnig wichtige Rolle im Prozess gespielt«, erklärt Daima­güler im Gespräch. »Sie haben uns bei der Recherche unter­stützt und für Öffent­lich­keit gesorgt.« Fünf seiner Mandanten lebten mittler­weile in der Türkei und hätten sich nur durch die türkisch­sprachigen Mit­schriften der Initiative »NSU-Watch« über das Verfahren informiert, die jeden Prozess­tag protokolliert hat. »Und dann gibt es noch etwas Persön­liches: Man fühlt sich in einem solchen Verfahren oft alleine«, fährt Daima­güler fort. »Das Gefühl der Solida­rität durch die Initia­tiven hat viel Kraft gegeben – für mich und für meine Mandanten.«

 

Im Sommer 2017 haben viele dieser Initiat­iven gemeinsam das Tribunal »NSU-Komplex auflösen« im Kölner Schau­spiel organi­siert. Die »Initiative 6. April« und »Keupstraße ist überall« haben dafür mit anderen Initia­tiven, die sich mit Betroffenen rassis­tischer Gewalt organi­sieren, wie dem »Freundes­kreis in Gedenken an den rassist­ischen Brand­anschlag von Mölln« oder der »Oury-Jalloh-Initia­tive«, zusammen­gearbeitet. »Das Tribunal in Köln war für mich ein Zeichen, wie Auf­arbeitung eigent­lich statt­finden muss«, sagt Tahir Della von der »Initiative Schwarze Menschen in Deutsch­land«. »Mit den Betroffenen, mit den Ange­hörigen, mit denen, die Opfer rassis­tischer Gewalt geworden sind. Der NSU-Prozess hat hingegen gezeigt, wie es nicht funktioniert.« 

 

In München tragen rund ein Dutzend Mit­wirkende Teile der Anklage­schrift des NSU-Tribunals noch einmal laut vor: Verfassungs­schutz­mitarbeiter Andreas Temme wird von ihnen ebenso angeklagt wie Neo­nazis oder Bundes­kanzlerin Angela Merkel, die ihr Versprechen auf Auf­klärung nicht ein­gelöst habe. »Heute kommt noch ein Name dazu«, sagt ein Aktivist: »Wir klagen an: Manfred Götzl, Richter.« 

 

Im Anschluss hält Kemal G. eine Rede. Wie viele Mit­glieder der Keup­straßen-Initia­tive hat er sich im Laufe des Prozesses ver­ändert. Zu Beginn musste er noch darum kämpfen, endlich als Terror­opfer Gehör zu finden, heute steht er vor ein paar Hundert Menschen und redet frei: »Zum Teufel mit ihrer Gerechtig­keit. Für uns hat sie keinen Wert. Sie versuchen, mit ihrem Urteil einen Schluss­strich zu ziehen, aber wir werden das nicht zulassen.« Lauter Applaus.

 

Der Platz vor dem Gericht füllt sich, es ist mittler­weile später Nach­mittag. Die Rapper der Anti­lopen Gang spielen ihren Song »Beate Zschäpe hört U2« über die Ent­stehung des Rechts­terrorismus aus dem deutschen Klein­bürger­tum. Vorher haben sie ihr Publikum auf­gefordert, den Mittel­finger in Richtung des Gerichts­gebäudes zu zeigen. Das lässt sich niemand zweimal sagen.

 

»Wir waren nach diesem Urteil sehr erleichtert, auf der Demons­tration laufen zu können und so nicht alleine mit diesem Urteil sein zu müssen« Antonia von der Behrens, Anwältin der Ange­hörigen von Mehmet Kubaşık

Als sich eine Stunde später der Demons­trations­zug in Bewegung setzt, sind 5000 Menschen zusammen­gekommen: Antifa-Aktivisten, Bürger, Mitglieder linker Parteien. Aber die erste Reihe der Demons­tration ist für die Ange­hörigen und Opfer reserviert: Arif S. und Kemal G., Adile, Semiya und Abdulkerim Şimşek, Elif und Gamze Kubaşık. Sie tragen die Zeich­nungen der Gesichter ihrer Familien­mitglieder in der Hand. Neben anderen Vertretern der Neben­klage nimmt auch die Berliner Anwältin Antonia von der Behrens an der Demons­tration teil. Sie vertritt Ange­hörige des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık. »Wir – die Familie und ihre Anwälte – waren nach diesem Urteil sehr erleichtert, auf der Demons­tration laufen zu können und so nicht alleine mit diesem Urteil sein zu müssen.«

 

Die Demo zieht durch das migrantisch geprägte Viertel um den Münchener Haupt­bahn­hof. Dort bleiben die Menschen stehen und filmen, viele freuen sich. Dann geht es am Stachus vorbei in Richtung Odeons­platz, direkt an der Residenz. Am Ende sind die Gesichter der NSU-Opfer in Richtung des bayerischen Innen­ministeriums gerichtet, zuständig für Polizei und Verfassungs­schutz. Es ist eine Bot­schaft für die Zukunft: Wir geben nicht auf!

 


Keupstraße ist überall
Die Initiative setzt sich mit Betroffenen des Kölner ­Nagelbombenanschlags für die Aufklärung der NSU-Mord- und Anschlagserie ein.
keupstrasse-ist-ueberall.de


NSU-Watch
Seit Beginn begleitet NSU-Watch den NSU-Prozess, veröffentlicht Prozess­berichte und Recherche­ergebnisse.
nsu-watch.info


Tribunal »NSU-Komplex auflösen«
Das antirassistische Bündnis veranstaltete 2017 mit Betroffenen und Überlebenden ein fünftägiges Tribunal und verfasste eine eigene Anklage­schrift.
nsu-tribunal.de