Schwebend über dem Abgrund

Mit »In A Silent Way« hat Miles Davis vor über 30 Jahren einen Jazzmythos erschaffen. Noch heute fragt man sich: Was passierte damals wirklich im Studio? Die Box »The Complete In A Silent Way Sessions« dokumentiert erstmals die Vorgänge.

 

1.
»In A Silent Way« dürfte eines der erfolgreichsten Jazzalben aller Zeiten sein. Und es dürfte zu den ganz wenigen Alben zählen, mit denen man spontan kein Thema, keine Titelmelodie assoziiert. Hört man andere Dauerbrenner der Jazzgeschichte, John Coltranes »Love Supreme«, Keith Jarretts berüchtigtes »Köln Concert«, so fällt einem sofort das Motiv ein, das der ganzen Aufnahme seinen Stempel aufdrückt. Zu »In A Silent Way« fallen einem nur Athmosphären ein, Stimmungen, die die Musik ebenso schemenhaft wie präzise evoziert. Nebel und Nachtluft in einem.

2.
Als Columbia Records im August 1969 das Album veröffentlicht, muss es den hartgesottenen Fans von Miles Davis als ein tiefer Einschnitt vorgekommen sein: Miles Davis hatte sein klassisches Quintett, von dem man heute weiß, dass es sein bestes war, verabschiedet. Auf »In A Silent Way« ist alles anders: Saxophonist Wayne Shorter steuert bloß ein paar Soli bei, ihm kommt keine integrative Aufgabe zu. Das Schlagzeuggenie Tony Williams spielt einen minimalistischen Groove, nur auf dem Hi-Hat. Bassist Ron Carter hat die Band verlassen, stattdessen streicht ein junger Engländer namens Dave Holland tiefe Drones. Und Herbie Hancock? Der spielt mit Chick Corea und Joe Zawinul in einer »Band in der Band«. Mit ihren Orgeln und Fender Rhode Pianos weben sie feinste Strukturen, tupfen pointillistisch ein paar Klangfarben, deuten Akkordstrukturen bloß an. Hinzu kommt der Gitarrist John McLaughlin, ein E-Gitarrist. Er phrasiert viel autonomer als die Generation der Jazzgitarristen vor ihm, die eher wie verhinderte Saxophonisten agierten.
Davis spielt wie Davis. Das Erstaunlichste ist, wie unerschüttert die von ihm losgetretenen Veränderungen (das Quintett hatte über fünf Jahre zusammen gearbeitet) ihn selbst lassen. Er passt sich der Umgebung an, ohne dass sich etwas an seinem Klang ändert. Das Chamäleon.
»In A Silent Way« verabschiedet aber nicht nur die alte Band, mit ihr verschwindet auch das Sich-Abarbeiten an klassischem Jazzmaterial, wie es das Quintett so meisterhaft praktiziert hatte. Wie gesagt: »In A Silent Way« ist im Prinzip un-thematisch. Natürlich ist die Titel gebende Komposition Joe Zawinuls notiert, und »It’s About That Time« hat einen prägnanten Drive, der in den einzigen (kurzen) Ausbruch dieser Platte mündet – aber alles ist so zurückgenommen, dass es nicht auffällt. Die vier Minuten der Zawinul-Komposition, die die zweite Seite des Albums majestätisch einleiten, sind identisch mit den vier Minuten, mit denen die Platte endet. Es fällt wirklich keinem auf.

3.
Das Album mag den Fans als tiefer Einschnitt vorgekommen sein, ein Schock war es nicht. Es war von Anfang an ein kommerzieller Erfolg. Miles Davis war egomanisch, aber kein Ikonoklast. Schockästhetik, auf die der Free Jazz setzte, war ihm ebenso fremd wie die höheren Weihen der Transzendenz, nach denen Coltrane strebte. In einer Zeit, als viele klassische Jazzklubs schließen mussten, als Hardbop sich endgültig als ästhetische Sackgasse erwies, strebte Davis, der Populist und Erfolgsmensch, zum Rock. Seine damalige Frau, die junge R’n’B Sängerin Betty Mabry, und sein ebenfalls noch jugendlicher Drummer Tony Williams infizierten ihn mit der Musik von Jimi Hendrix und James Brown. Davis ging das Experiment ein: Die Musik bricht zu simplen Funk- und Rockpatterns auf, aber auf dem Weg dahin löst sie sich auf, verschwimmt in ihren sanft psychedelischen Klangfarben. Deshalb ist diese Musik so schwebend, weil Davis die immer einfacher gestrickten kompositorischen Vorgaben und die immer straighteren Beats mit eine höchst komplizierten Spielauffassung zusammenbringt. Chick Corea berichtet davon, dass während der Aufnahmen im Studio Miles Davis zu jedem einzelnen der Musiker hinschlich und ihm ein paar Anweisungen ins Ohr flüsterte, unhörbar für die anderen.

4.
Seit ein paar Jahren fasst Davis’ Plattenfirma seine Alben zu Werkgruppen zusammen, u.a. ist seine Zusammenarbeit mit dem Arrangeur und Komponisten Gil Evans komplett editiert.
Auf die erst kürzlich erschienenen »The Complete In A Silent Way Sessions« hat man besonders gewartet. Man weiß heute, dass das Album aus einem kontinuierlichen Prozess heraus entstanden ist: Zwischen dem 24.9. 1968 und den 20.2. 1969 spielten die Musiker Sessions ein, die das Transitorische dieser Musik perfekt dokumentieren. Die »Complete Sessions« enthalten auf drei CDs über 3 1/2 Stunden Musik, davon etwa 90 Minuten unveröffentlichtes Material. Allein das rechtfertigt den Kauf. Aber darauf ist man nicht scharf, nicht wirklich.
Das Originalalbum war in hohem Maße post-produziert: Der Produzent Teo Macero arrangierte das Album dadurch, dass er die Stücke zerschnitt und neu zusammensetzte. Man hört es, die Schnitte sind offensichtlich, einige noch nicht mal richtig sauber. Das ist unheimlich. Davis verabschiedet sich nicht nur von den liebgewonnenen Jazzkonventionen (die er sowieso immer nur als zu unterlaufende »akzeptiert« hat), er verabschiedet sich vom heiligen Gral der Authentizität. »In A Silent Way« ist erst nachträglich entstanden. Auf einmal war da noch jemand, eine mephistophelische Gestalt: Teo Macero, ein biederer Angestellter von Columbia, ein verhinderter Cooljazz-Saxophonist. Macero wird auch die folgenden Alben von Davis cutten und neu editieren. »Bitches Brew« und dann die radikalen, abgrundtiefen, rabenschwarzen Alben: »On The Corner«, »Get Up With It«, »Dark Magus« – sie alle leben auch von dem Mythos des alles lenkenden Produzenten.

5.
Die Stücke sind erst nachträglich entstanden – und das war Anlass für ungezählte Spekulationen darüber, was wirklich im Studio vor sich ging an jenem 18.2. 1969. War. Denn jetzt weiß man: Das Originalmaterial unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, was hinterher auf dem Album zu hören war. Insgesamt sind 46 Minuten brauchbare Musik aufgenommen worden. Macero entschied sich für 33 Minuten und streckte sie auf 40. Weder ist Macero der diabolische Schnippler, noch waren Davis und seine Mitstreiter an diesem Tag so verschwenderisch, dass sie Stunden an Material einfach unverwendet gelassen hätten.
In ihrer unbearbeiteten Form gewinnen die Kompositionen »Shhh/Peaceful« und »It’s About That Time« an Kontur. Sie werden fassbarer. Sie werden entzaubert. Sie bewähren sich aber auch. Auch sie hätten für ein exzellentes Album verwendet werden können. Nur hätte dieses dann anders geheißen.

6.
Das opulente Booklet dokumentiert den Prozess, erklärt ihn aber nicht. Die Linernotes des Pianisten Bob Belden beschreiben die Takes minuziös. Alle Fakten werden erwähnt, O-Töne gesammelt und Beobachtungen, wie die sich verändernde Band im Winter 68/69 aufgetreten ist, wiedergegeben. Nur: wie sehr die Musik in der Schwebe ist, das zu beschreiben kriegt Belden nicht hin. Der Gag ist ja: »In A Silent Way« funktioniert als Album perfekt. Es ist in sich geschlossen. Um die diffus organisierten Kompositionen zu einem Ganzen zu verschweißen, weicht Macero ihre Form, ihre Kontur auf und lässt sie verschwimmen – zu Gunsten der »höheren« Form des Gesamtkunstwerkes. Das ganze Album verdankt sich dieser Paradoxie. Und diese Paradoxie verdankt sich einer Spielhaltung, die, nicht zuletzt getrieben von Populismus und Egomanie, den Jazz ultimativ verflüssigt. Rock bleibt ein Annäherungswert, der angestrebt, aber bewusst nie erreicht wird. Obwohl in den Stücken eine Menge Hendrix-Material herumgeistert und es von Rock-typischen Riffs nur so wimmelt.

7.
Herumgeistern. Das Interessanteste an diesen Aufnahmen scheint heute, dass Davis selber nur herumgeistert. Er dominiert nicht, obwohl es seine Musik ist. Er ist sein eigener Schatten. Seine größte Leistung liegt nicht mehr in seinem immer noch virtuosen Spiel, sondern in dem Risiko, das er eingeht. Er setzt darauf, dass die Musiker sich auf die Paradoxien einlassen und durch sie kommunizieren. Den Wetteinsatz hat er doppelt ausbezahlt bekommen.

Miles Davis, »The Complete In A Silent Way Sessions« sind bereits auf Columbia/Sony erschienen.