Kritischer Blick: Francesca Melandri

Falsches Blut

Francesca Melandri erzählt, wie sich die italienische Kolonialgeschichte in den heutigen Flüchtlingsbewegungen spiegelt

»Da oben wartet ein schwarzer Mann auf dich«, ruft eine Nachbarin der Lehrerin Ilaria Profeti im Hausflur hinterher. »Sollte er Ärger machen, dann schrei einfach. Ich hab meinen Enkel zum Abendessen hier, der kann dir helfen.« Den Alltagsrassismus überhört die erschöpfte Ilaria, er zieht sich jedoch als roter Faden durch »Alle, außer mir«, den neuen Roman der italienischen Autorin Francesca Melandri. Rassismus in all seinen Ausprägungen als Motor der zunehmenden Abschottungspolitik Europas interessiert die 1964 in Rom geborene Autorin ebenso wie die Verbindung von europäischer Kolonialvergangenheit und gegenwärtiger Asylpolitik, die direkte Linie von der Ausbeutung eines Kontinents zu Migrationsbewegungen Richtung Europa. 

 

Der »schwarze Mann« im Hausflur stellt sich als Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti vor, ein 25-jähriger Äthiopier, der über das Mittelmeer nach Italien gekommen ist. Sein Erscheinen spült die verdrängten Familiengeheimnisse der Profetis ebenso an die Oberfläche und offenbart zugleich die blinden Flecken im kollektiven Gedächtnis der italienischen Gesellschaft. Attilaprofeti stellt sich als Neffe von Ilaria heraus. Ihr Vater Attilio Profeti, inzwischen 95 Jahre alt und dement, hatte seiner Familie einen mit einer Äthiopierin gezeugten Sohn verschwiegen. Auch war der Vater im Zweiten Weltkrieg keineswegs Partisan, wie er immer behauptet hatte, sondern Soldat in der italienischen Kolonie auf dem Gebiet des heutigen Äthiopien. Dort wurden ab 1935 durch Giftgas und Massenerschießungen mindestens 300.000 Menschen ermordet. Statt diese Vergangenheit aufzuarbeiten, wurden die Verbrechen in den italienischen Kolonien nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem gesellschaftlichen Tabu. 

 

»Sangue giusto« lautet der Originaltitel des Romans, die Frage nach dem »richtigen Blut« ist es, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander koppelt. Ein vermeintlich »falsches Blut« hatten jene Äthiopier, denen Land und Leben durch die italienischen Kolonisatoren genommen wurde. Heute sind es wiederum die afrikanischen Flüchtlinge, deren »falsches Blut« ihnen den Zugang zu Europa verwehrt. 

 

 

StadtRevue präsentiert: Do 18.10., Literaturhaus, 19.30 Uhr, Francesca Melandri: »Alle, außer mir« Wagenbach, 608 S., 26 Euro