Der Westen in uns

Die russisch-israelische Künstlerin Mary Ocher tritt auf der Night Of ­Surprise auf und gibt dem Festival ein ­diskursives Zentrum

Am Ende kriecht eine Schlange über einen bemoosten Felsen und verschwindet im schwarzen Balken am unteren Bildrand. Es wirkt, als ob sie den Bildrahmen verlassen und in die Realität des Betrachters eintauchen würde. Das Video zu »The Irrevocable Temple of Knowledge« von Mary Ocher bedient sich einer subtilen wie suggestiven Bildsprache, die herausfordert. Zu minimalistischem Tribaltechno und pseudo-primitivistischem -Fantasie-Gesang sieht man Bilder von im Nachtwind zitternden Blätterdächern und exotischen, perfekt an ihre Umgebung angepassten Tieren, die den Betrachter ihrerseits stumm anstarren. Die gezeigte Tropennatur wirkt in ihrer erhabenen Autonomie menschenfeindlich. Der »unabänderliche Tempel des Wissens«, so in etwa die deutsche Übersetzung des Titels, ist die Natur, das Andere des Kulturwesens Mensch. Aus diesem Tempel schöpft der Mensch sein Wissen, versucht mimetische Fähig-keiten abzuleiten, die Natur in -Kultur zu verwandeln.

 


Das Stück sitzt in der Mitte des aktuellen vierten Albums »The West Against The People« der russisch-israelischen Künstlerin Mary Ocher, das bereits im vorletzten Frühjahr auf Klangbad erschien. Es gibt einer pop-diskursiven Gegenwartserkundung, in denen Themen wie Migration, Nationalismus, Diskriminierung und unerklärte Kriege aufgegriffen werde, einen transzendentalen Rahmen. In Ocher, die ganz zeitgemäß zu gleichen Teilen als Kunstfigur wie authentische Person in Erscheinung tritt, scheinen diese Diskurse zu kulminieren: ihre Biografie und ihr Werk sind von den Zerwürfnissen der Gegenwart geprägt.

 

Ocher ist 1986 in Moskau geboren, in Israel aufgewachsen und lebt seit über zehn Jahren in Berlin, und sie verarbeitet in ihrer Musik genauso Genderrollen wie ihre migrantische Identität. Im Interview erzählt sie, wie sie als russisches Einwandererkind im israelischen Kibbuz gehänselt wurde, und wie stark ihr Kuba-Urlaub sie an die Erzählungen ihrer Eltern über leere Supermarktregale in Moskau erinnert hätte. Ihr Außerseitertum hat sie zu ihrem Markenzeichen gemacht: Angetan wie eine Mischung aus SunRa-Wiedergänger, Vorwende-Vamp und Gender-Studies-Professorin antwortet ihre überschminkte -Maskerade auf die Klischeebilder hipper Berliner Künstlerinnen — und die Selbstkarikatur hat bei ihr eine selbstbewusste und emanzipative Stoßrichtung. Während ihre Erscheinung den Stereotyp überdehnt, gibt sich ihre Musik gleichermaßen von rauem Rock’n’Roll wie von introvertiertem Ambient inspiriert, ihre Texte verkehren die Klischees. Das alles wirkt wie ein großer, so inspirierter wie inspirierender Befreiuungsschlag.

 

In einem Essay, der ihrem Album beiliegt, formuliert Ocher gesellschaftskritische Gedanken, die neben identitäts-politischen auch neo-marxistische Züge tragen. Im Zentrum steht die Auto-matisierung und Auslagerung der Arbeit, und die daraus resultierenden sozialen Zerwürfnisse, die sich im Westen in Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus und im Rest der Welt in den notorischen »Migrationsursachen« äußern. Auf dem Album finden sich dazu mit dem berückend-lakonischen »The Endlessness (Song For Young Xenophobes)«, dem schamanistisch-hypnotischen »Washed Upon Your Shores« und dem hymnisch-traurigen »Arms« schonungslos direkte und musikalisch brillante Kommentare zu Fremdenfeindlichkeit, Migration und Militarismus. Der »Westen« im Albumtitel meint bei Ocher eine Ideologie, die einer Minderheit Vorteile verschafft.

 

Inwieweit sie selber Teil dieser privilegierten Minderheit und gleichzeitig aber auch als Frau, -Migrantin und Jüdin Opfer von -Diskriminierungen ist, darüber macht sich Ocher lautstark Gedanken. Es lohnt sich, ihr zuzuhören. Sie kommt zu dem Schluss, dass alle, von der unteren Mittelschicht abwärts, Teil einer unterdrückten Mehrheit sind, die sich über alle kulturellen Identitäten hinweg im Kampf gegen Ungerechtigkeit vereinen sollte. Selten kamen revolutionäre Botschaften gleichzeitig so unverblümt laut und so berückend schön daher.

 

 

 

Night Of Surprise

 

 

Die diesjährige Ausgabe wartet wieder mit einem tollen Programm auf. Nirgendwo sonst bekommt man in Köln derart kompakt den Stand zeitgenössischer Musikproduktion präsentiert, die Protagonisten des Abends stammen aus der ganzen Welt. Es treten u.a. auf: das jamaikanische Dancehall-Duo Equik-noxx Music, dessen letztjähriges Album »Colón Man« von der taz zum spannendsten des Jahres gekürt wurde, und die Köln gemeinsam mit Shanique Marie kurzerhand in Kingston verwandeln werden. Sofyann Ben Youssef alias Ammar 808 wiederum verschraubt den Techno-Sound der legendären namensgebenden Drum-Machine mit maghre-binischen Traditionen und aktualisiert damit überzeugend panarabische Tanz-musik. Der junge ame-rikanische Musiker Sam Amidon interpretiert den ländlichen Folk der Appalachen mit urbaner Sophistication, in Köln wird er das gemein-sam mit einem zeitgenössischen Streichquartett tun. Die slowenische Pianistin Kaja Draksler und der polnische Schlagzeuger Szymon Gasiorek verbinden in ihrem Jazzentwurf Czajka & Puchacz freie Improvisation, Musique concrète, Tape Samples und Disco Polo, der bretonische Dudelsack-Derwisch Erwan Keravec, der das hiesige Publikum schon einmal um den Verstand gespielt hat, kommt mit seinem Pfeifen-quartett Sonneurs. Dass mit Nidia eine der wichtigsten Player im portugiesisch--angolanischen Kuduro-House und mit der Amsterdamerin Marcelle eine der weirdesten DJs Europas auftreten werden, macht alle Verpflichtungen, die das heutige Erscheinen behindern könnten, vollends obsolet.

 

 

 

Stadtrevue PRÄSENTIERT: Konzert und Party: Fr 19.10., Stadtgarten all area, 19 Uhr, Eintritt frei!