»Dann beginne ich Fragen zu stellen«: Selma Gültoprak in ihrem Atelier im Kunstwerk, Foto: Marcel Wurm

Tulpen in Camouflage-Optik

Friedrich-Vordemberge-Stipendium 2018: Selma Gültoprak verbindet in ihrer

Arbeit kritischen Geist mit Humor und Poesie

Nichts von dem, was uns umgibt, ist einfach da. In jedem Ding, das wir selbstverständlich benutzen, jedem Ort, an dem wir im Alltag vorbeihuschen, steckt eine Erzählung oder Symbolik, die wir meist gar nicht wahrnehmen. Selma Gültoprak spürt die Geschichten dieser Orte und Gegenstände auf, macht sie wieder sichtbar und entwickelt daraus neue Erzählungen. 

 

Das können zum Beispiel die Wartehäuschen einer Bushaltestelle sein, die sie 2017 zusammen mit Künstlerkolleg*innen in den Kölner Grüngürtel verpflanzte. Dort, wo gar kein Bus vorbeikommt, spielten diese Architekturen mit den Erwartungen der Passanten, boten Unterschlupf und die Möglichkeit sich niederzulassen, Musik zu hören, zu chillen, dort, wo es die Stadt versäumt hat, eine Bank aufzustellen. Die Haltestelle als Transitbereich, an dem man sich gar nicht richtig aufhält, sondern in Gedanken schon am Zielort ist, wurde zu einem Ort, an dem man auf einmal gar nicht mehr auf irgendetwas wartete. Das wirkt wie viele von Selma Gültopraks Arbeiten regelrecht poetisch. Die Scheiben einer dieser Haltestellen waren schwarz-rot-golden eingefärbt und warfen in der Sonne schimmernde Lichtreflexe auf den Spazierweg. Dann mischten sich unter das romantische Lichtspiel beim Blick auf den Herkulesberg plötzlich kritische Gedanken: Was bedeutet das Unterwegssein in heutiger Zeit? Kann das Land, in dem wir leben, der ersehnte Zufluchtsort sein oder werden die, die gerade in Chemnitz und anderswo so eifrig nationale Fahnen schwenken, die Oberhand gewinnen? 

 

Auch wenn ihre Arbeiten oft gesellschaftliche Themen einschließen, sieht sich Selma Gültoprak nicht als politische Künstlerin. Ihre Arbeiten haben keine Agenda, eben-so wenig wie sie auf der Grund-lage eines Konzepts oder einer bestimmten visuellen Idee entstehen. »Es ist eher so, dass mir etwas begegnet, das mich interessiert. Das ist oft etwas ganz Banales. Und dann fange ich an zu suchen, Fragen zu stellen, mit Leuten zu sprechen«, beschreibt sie im Gespräch ihre Herangehensweise an neue Projekte. Was danach kommt, ist ein offener Prozess, aus dem skulpturale, installative, interaktive Werke entstehen, die oft, aber nicht ausschließlich im öffentlichen Raum verortet sind.

 

Die KHM-Absolventin, die ihr Studium bei Stefanie Stallschuss, Phil Collins und Johannes Wohnseifer 2012 abgeschlossen hat, sucht hierfür auch gern andere Orte auf. Künstler-Aufenthalte führten sie nach China oder in die Türkei. Während einer Residence in Istanbul entstanden Collagen aus antiquarischen Fotos von türkischen Soldaten, die vor Militärarchitektur posieren. Ihre Köpfe hat sie durch Tulpen-blüten ausgetauscht, die symbolisch für die kulturelle Blütezeit der Türkei stehen, der sogenannten Tulpenzeit im 18. Jahrhundert. Damals waren die prunkvollen städtischen Parks wichtige Begegnungsorte für die Einwohner der Stadt. Heute sind sie größtenteils militärisches Gelände und für die Öffentlichkeit unzugänglich. Verschiedene von Einwohnern Istanbuls angefertigte Übersetzungen des Werktitels »The Inmost Wilderness« wurden von einem Istanbuler Graffiti-Künstler auf die Collagen gezeichnet. Als Ausdruck der Aneignung öffentlichen Raums erinnern die Tags an die Besetzung des Gezi-Parks, dem inzwischen symbolischen Ort für eine kritische Gegenöffentlichkeit. Außerdem plant die Künstlerin ein Tulpenbeet anzulegen, in Camouflage-Optik. Schon wieder Politik, aber auch schon wieder Poesie. 

 

Auf ein bestimmtes Medium legt sich Gültoprak in ihrer Arbeit nicht fest. Vielmehr entwickelt sie die Form aus dem jeweiligen Gegenstand, probiert neue Techniken aus. »Manchmal ist es besser, wenn man am Anfang gar nicht so viel weiß.« So schafft sie es wahrscheinlich auch, ihre eigene Faszination und das Interesse am Gegenstand zu vermitteln und neue Erlebnisse herzustellen. Die Nähe zum gesellschaftlichen Jetzt ergibt sich, indem sie die »Besucher*innen« ihrer Arbeiten anregt, mit ihnen zu interagieren. Sehr unmittelbar vermischt sich dadurch die Erzählung des Objekts mit den Erfahrungen und Erwartungen der Betrachter.

 

Selma Gültoprak verwebt all diese unterschiedlichen Ebenen mit Präzision und viel ästhetischem Gespür, wenn sie versucht, sowohl dem Gegenstand und seiner Geschichte als auch der neuen Ausstellungsituation gerecht zu werden. Das Interesse für die Welt, in der sie lebt, hat die diesjährige Fachjury des Friedrich-Vordemberge-Stipendium der Stadt Köln überzeugt. Gerade bereitet Gültoprak die mit dem Stipendium verbundene Einzelausstellung in der Artothek vor. »Das ist wirklich noch sehr offen«, lacht sie und meint es ernst. Fest steht, dass sie die Ausstellung speziell für den Ort entwickeln wird. Wir erinnern uns: »Manchmal ist es besser, wenn man am Anfang nicht zu viel weiß.« Möglicherweise gilt das auch für die Besucher*innen, solange sie Offenheit und Neugier mitbringen.

 

 

 

Ausstellung:
artothek — Raum für junge Kunst, Am Hof 50, Di–Fr 13–19, Sa 13–16 Uhr, 1.11.–24.11., Eröffnung 31.10., 20 Uhr