Was geschah hinter diesen Türen? LVR-Psychiatrie in Brauweiler, Foto: © LVR / Franz Josef Knöchel

Die totale Verwahranstalt

Der LVR will mit drei Studien die Skandale in seinen psychiatrischen Kliniken und Schulen aufarbeiten

 

»Man war ein Nichts da«, sagt Hedwig Mannheimer. »Da« — das ist die Klinik des Landschaftsverband Rheinland (LVR) in Brauweiler, wo Mannheimer in den 70er Jahren mehrmals Patientin war. 1978 wurde die psychiatrische Anstalt geschlossen, nachdem dort mehrere Patienten bei Stürzen aus dem Fenster und durch falsch dosierte Medikamente gestorben waren.

 

Bis heute lastet der »Brauweiler-Skandal« auf der psychiatrischen Arbeit des Landschaftsverbands. Er hat deshalb drei Studien in Auftrag gegeben, die sich mit der Geschichte der Psychiatrien und Gehörlosenschulen des LVR auseinandersetzen. Die Historikerinnen und Historiker haben dafür Archiv-Akten ausgewertet und mit Menschen gesprochen, die die Einrichtungen als Patient oder Schüler besucht haben. Anfang Oktober wurden die Ergebnisse vorgestellt, der Saal des LVR-Hauses war bis auf den letzten Platz besetzt. Frank Sparing hat die LVR-Psychiatrie der unmittelbaren Nachkriegszeit und ihre Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus aufgearbeitet. Andrea zur Nieden und Karina Korecky beschäftigen sich mit den Zuständen in der Psychiatrie ab den 70er Jahren, als unter dem Eindruck der Psychiatrie-Enquête und den Skandalen in Brauweiler Reformen zaghaft angestoßen wurden. Anke Hoffstadt hat sich mit der Geschichte der Gehörlosen-Schulen des LVR beschäftigt. Die gehörlosen Schüler litten dabei besonders unter dem Zwang, die Lautsprache zu lernen, was bis in die 70er Jahre an den LVR-Schulen Teil des Curriculums war.

 

Den größten Teil nimmt jedoch die Geschichte der LVR-Psychiatrien ein, die Andrea zur Nieden am Beispiel der Klinik in Brauweiler schildert. Die Anstalt war permanent überbelegt, das Klinikpersonal verstand den Ort als Verwahranstalt und behandelte die Patienten wie Häftlinge. Eine kleine Gruppe von Ärzten, die eine Reform der Behandlungsmethoden propagierte, wurde von der Mehrheit des Personals sowie dem alkoholsüchtigen und manisch-depressiven Anstaltsleiter Fritz Stockhausen aus der Klinik gedrängt.

 

Als »Entwertung von Menschen« beurteilt die Sozialarbeiterin Christa Wirtz-Stützer die Zustände an ihrem Arbeitsplatz in Brauweiler. Wirtz-Stützer schloß sich später der Sozialistischen Selbsthilfe Köln (SSK) an, die psychisch Kranke unterstützte. Die Recherchen der SSK führten dazu, dass der Tod der Patientin Marion M. durch falsche Medikation schließlich vor Gericht verhandelt wurde, was zur Schließung der Anstalt beitrug. »Wir wurden für unsere Berichte vom LVR verklagt«, berichtet das ehemalige SSK-Mitglied Lothar Gothe. »Aber vor Gericht haben wir Recht bekommen«.

 

Im Mittelpunkt der Kritik der SSK stand Udo Klausa, der von 1954 bis 1975 Landesdirektor des LVR war. Im Zweiten Weltkrieg hatte Klausa im besetzen Polen den Abtransport der jüdischen Bevölkerung in die KZs organisiert. Erst in den vergangenen Jahren hat sich der LVR damit begonnen, die NS-Verstrickungen Klausas aufzuarbeiten. »Die Aufarbeitung ist nicht beendet«, erklärt Lothar Gothe. »Die Uni Düsseldorf muss die Ehrendoktorwürde für Klausa rückgängig machen.«

 

Die jetzt veröffentlichten Forschungsergebnisse liefern Gothe neue Argumente. Laut Andrea zur Nieden steht Klausa für eine »Tradition autoritärer Disziplinierung«. Als Landesdirektor des LVR war Udo Klausa über die Zustände in Brauweiler informiert und schritt nicht ein. 1982 setzte er sich beim damaligen NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau für die Wiederzulassung Stockhausens als Arzt ein, der zu diesem Zeitpunkt bereits wegen mehrfacher Körperverletzung in Brauweiler verurteilt war. Klausa stellte die »standesbewusste Kameradschaft über die Verantwortung für zukünftige Patienten«, schreibt Andrea zur Nieden. 

 

Aber auch jenseits der Person Klausas gab es in den LVR-Psychiatrien Kontinuitäten zur NS-Zeit. Nach Kriegsende waren die Vorstellungen der »biologischen Psychiatrie« weiterhin bei vielen Ärzten handlungsleitend. Das Personal, das im Nationalsozialismus an der Tötung von Patienten mitgewirkt hat, konnte in der BRD fast ausnahmslos seine Karriere fortsetzen. Erst in den 50ern, als sich das öffentliche Bild von psychisch Kranken änderte und neue Medikamente auf den Markt kamen, veränderte sich die psychiatrische Praxis.

 

Für den LVR ist die Geschichte seiner Psychiatrien eine des erfolgreichen Wandels »von der totalen Institution zur Patientenzentrierung«. Nicht alle teilen diese Einschätzung. »Die Fesseln sitzen heute an den Synapsen«, meint Lothar Gothe. Anstatt mit körperlicher Gewalt würden Patienten jetzt mit Medikamenten ruhiggestellt. »Neuroleptika werden zu schnell und in zu hoher Dosis angeordnet«, sagt auch Joachim Brandenburg. Er ist Mitglied im »Netzwerk 01 Psychiatrieerfahrene Köln & Umgebung« und setzt sich beim LVR für die Rechte von Psychiatriepatienten ein. »Die klinische Praxis entspricht bis heute nicht dem, was der LVR verkündet.«

 

 

1 | Frank Sparing: »Zwischen Verwahrung und Therapie«, 416 S., 24 Euro 

 

2 | Andrea Zur Nieden und Kathrin Korecky: »Psychiatrischer Alltag«, 359 S., 24 Euro

 

3 | Anke Hoffstadt: »Gehörlosigkeit als ›Behinderung‹«, 312 S., 22 Euro 

 


Alle Bücher sind im Metropol Verlag erschienen.