Gnadenlos unter Druck

Die Stuttgarter Post-Punker Karies harren

in ihren Karstlandschaft weiter aus

Eine Stadt im Taumel: Vor zwei Jahren jubilierte die Stuttgarter Zeitung, eine Zeitung die popkulturell noch unbeleckter ist als die hiesige DuMont-Presse, über die heimische Band Karies, sie »erweisen sich auf ihrem zweiten Album »Es geht sich aus« sogar noch beklemmender, verstörender und stoischer als ihre Kollegen Die Nerven. Ja, das geht tatsächlich!«

 

Ja, da geht was in Stuttgart, tatsächlich. »Von Heimat kann man hier nicht sprechen« hieß standesgemäß die Urknall-Compilation aus dem »Nerven«-Universum, die vor fünf Jahren erschien. Der Postpunk Stuttgarts, für den exemplarisch Die Nerven und eben Karies stehen, der aber einen tiefen Resonanzraum hat, in dem sich noch zahlreiche andere Bands tummeln, knüpft an den glorreichen rheinischen Postpunk der Jahre 1979ff. an. Einerseits. Andererseits verwenden sie die Musik von S.Y.P.H. oder Mittagspause (oder, Schwenker nach Hamburg, den ganz frühen Abwärts) nicht als sklavisch zu kopierende Vorlage, sondern als Form, die man gnadenlos unter Druck setzen kann. Verschwende Deine Jugend? Verschwende die Vergangenheit! Diese Bands sprechen in der Gegenwart über die Gegenwart gegen die Gegenwart.

 

Karies spielen also den hibbeligen Postpunk, der in seiner Kombination aus dürrem Schlagzeuggeklapper, dominantem Bass, konsequent anti-melodiös eingesetzten Gitarren und theatralischem Gesang stets mehr melancholisch-nervös als leidend-aggressiv klang, derart kompakt und konzentriert, dass die melancholische Stimmung ins Wütende kippt. Eine Wut allerdings, die sich nicht in Aktion übersetzt. Das Quartett, das sich konsequent als Kollektiv gibt, aus dem niemand herausragt, verdichtetet eine einst transparente Musik immer weiter, bis sie zu einem schier unverrückbaren monolithischen Klotz sich aushärtet. Sie gestalten die Übergänge von Melancholie zu Wut zu Stillstand beängstigend abgeklärt. Ihr Schillern spielt sich zwischen Grau und Schwarz ab.

 

Mit ihrem dritten Album »Alice«, in diesen Tagen auf ihrem Stammlabel This Charming Man erschienen, lassen sie ein Hochdruckgebiet über ihre Karstlandschaft ziehen. Der Karies-Sound ist plötzlich luftiger, die Schattierungen treten deutlicher hervor, es weht eine frische Brise über die Krater der erloschenen Illusionen ihrer Jugend. Aber was bescheint die Sonne? Natürlich die ewig gleiche Karstlandschaft. Die Sonne wärmt nur oberflächlich, die Energie, die man mit ihr tankt, spendet keinen Trost, sondern nur die nötige Kraft, um noch weiterzumachen. Was für eine realistische Musik.