Die Verhältnisse ­werden anarchisch

Das Schauspiel Dortmund und das Berliner ­Ensemble zeigen Die Parallelwelt simultan

Das hier ist Theatergeschichte: Erstmals zeigen zwei große Schauspielhäuser simultan eine Premiere, in der die Schauspieler auf eine Entfernung von 420 Kilometer Luftlinie in Echtzeit miteinander agieren. Verbunden sind sie per Glaskabel, die Verzögerungen bei Bild und Ton sind miminal. »Die Parallelwelt«, das Stück von Kay Voges, Alexander Kerlin und Eva Verena Müller, läuft in jeder Aufführung parallel im Berliner En-semble und im Dortmunder Schauspielhaus.

 

Eine große Projektionswand steht auf der Bühne. Meist wird sie in vier, oft auch in zwei Bildebenen unterteilt. Vorhänge gehen hoch, die von Kameras gefilmte Live-Szenerie wird sichtbar. Während das Ge-schehen auf der anderen Bühne stets sichtbar und hörbar bleibt. Schon vor Beginn winken die Zu-schauer aus Dortmund und Berlin sich zu, mit sehr kleinen Ausnahmen funktioniert die Technik ausgezeichnet.

 

Doch das ist nicht die hauptsächliche Qualität dieser Aufführung, es geht nicht um technische Spielereien, der Mensch steht im Mittelpunkt. »Die Parallelwelt« erzählt das Leben eines Mannes namens Fred. In Berlin geht es chronologisch von der Geburt bis zum Tod, in Dortmund ist die Reihenfolge umgekehrt. In der Mitte, der Hochzeit, treffen sich die -Zeit-ebenen. Vorher gab es kurze, ge-spens-tische Ahnungen der anderen, die auch schon zu berührenden Bildern führten. Zum Beispiel wenn Fred in der Trostlosigkeit seines Altersheims aus dem Fenster schaut und dort sich selbst als Kind wahrnimmt.

 

In der Hochzeit explodiert die Aufführung, wird zur aggressiv-phi-losophischen Komödie. Die Bräute schauen sich an, beide gleich geklei-det und frisiert, in Dortmund und Berlin. Annika Meier in der Haupt-stadt rastet aus, will es nicht hinneh-men, dass sie im schönsten Moment ihres Lebens eine Doppelgängerin hat. Während Bettina Lieder in Dort-mund — obwohl ihr das sehr schwer fällt — auf der Erkenntnis herum kaut, dass sie nicht so ori-ginell und originär ist wie sie dachte.

 

»Die Parallelwelt« ist Relativitätstheorie im Theater. In der Mikrowelt der kleinsten Teilchen gibt es Raum und Zeit nicht wie wir sie kennen, die Verhältnisse sind anarchisch. Das haben die Autoren Voges, Kerlin und Eva Verena Müller für die Makroebene durchgespielt. Ein zutiefst nachdenklicher und unterhaltender Abend.