Gegen Wände starren, vor Wänden stehen: AnnenMayKantereit blicken auch nach vorne, Foto: Martin Lamberty

»Junge, das klingt schon alles traurig«

AnnenMayKantereit melden sich mit neuem Album zurück — und waren doch nie weg

Das Bett ist immer irgendwie leer, die Gemeinsamkeit einsam und überhaupt — das Leben, Seufz. »Du hast dich oft gefragt was mich zerreißt«, singt Henning May in »Oft gefragt«, Lied Nummer Eins auf dem Debüt von AnnenMayKantereit, das 2016 direkt an die Spitze der deutschen Albumcharts stieg.

Oft gefragt habe ich mich das auch. Um ehrlich zu sein jedes Mal, wenn ich ein Lied der Band hörte. Was zur Hölle treibt so viel Pathos in vier Jungs im besten Alter? Ständig tut irgendwas weh, es wird an die Wand gestarrt und darauf gewartet, dass irgendetwas passiert. Es ist der Ursprung der Melancholie, dem ich beim Gespräch mit Christopher Annen (Gitarre) und Severin Kantereit (Schlagzeug) auf den Grund gehen möchte. Ich treffe die beiden anlässlich ihres zweiten Albums »Schlagschatten«, das am 7. Dezember  erscheinen wird (Vertigo/Universal). Für die Aufnahmen haben sie mit ihrem Team mehrere Wochen in einem winzigen Dorf in Spanien verbracht. Neue Aufnahmebedingungen und ein neuer Produzent sollten für frischen Wind sorgen. Für mich klingen die Songs so wie die auf dem letzten Album. Natürlich frage ich trotzdem zuerst nach musikalischer Entwicklung.

 

 

Dieser handgemachte Sound ist ja typisch für euch. Findet ihr darin eure musikalische Authentizität?

 

Christopher: Das ist auf jeden Fall immer noch ein Stück weit so, dieses Mal haben wir jedoch mehr mit Effekten gearbeitet. Wir wollten ein bisschen neue Sachen ausprobieren. Solange wir uns wohl damit fühlen, kann man das machen. 

 

Severin: Alles was man macht, wo man als Gruppe hinter steht, könnte man als authentisch bezeichnen. Wir haben ja niemanden, der uns sagt, spielt das mal so und so. Ich glaube dann könnte man sagen, dass wir unsere Authentizität aufgeben. Wir haben mit den Instrumenten und inhaltlich dieses Mal geguckt, in welche Richtung wir gehen können. Was viel Spaß gemacht hat, weil wir viel Zeit dafür hatten.

 

 

Wie viel Zielorientierung und Anspruch war denn dabei, nachdem das erste Album so viel Erfolg hatte?

 

Severin: Klar, die Ansprüche kann man nicht ignorieren. Manchmal ist das cool und manchmal hat man Phasen, wo man denkt, dass alles ein bisschen viel ist und die Erwartungen schon sehr hoch sind.

 

 

Wir plaudern über die Entstehung der Songs. Die beiden erzählen, auch textlich andere Richtungen ausprobiert zu haben. Das Lied »Weiße Wand« entstand in Zusammenarbeit mit einem HipHopper und einem Poetry-Slammer. Bei dem Thema muss ich sofort nachfragen, es könnte ja sein, dass das Rätsel um die Melancholie gelöst wird.

 

 

Das ganze Thema vom Phrasenhaften und vom Schweigen scheint euch zu beschäftigen. Woran liegt das?

 

Christopher: Grundsätzlich kennen wir das alle vier, dass man Sachen aus welchen Gründen auch immer nicht sagt. Wenn auch nur, um jemanden zu schonen oder weil man einfach denkt, dass man keinen Bock hat, ein Fass aufzumachen. Das ist manchmal, falls man das so sagen möchte, verlogen, kommt aber auch oft aus einer ganz anderen Motivation heraus. 

 

 

Klar, Schweigen, weil man einfach keinen Bock hat. Aber warum dann ständig drüber singen?

 

 

Melancholie würde ich als euer Element bezeichnen. Warum seid ihr davon so fasziniert?

 

Christopher: Ich glaube, das haben wir uns oft gar nicht ausgesucht, das ist einfach so drin. Es ist immer schwierig, eine Intention dahinter zu sehen. Wir haben nach den Aufnahmen ein paar Songs wieder runter genommen, weil wir gemerkt haben, dass wir es mit dem Gesamtbild vom Album nicht übertreiben wollen. Das kann ganz schön erschlagend sein und man denkt: »Boah Junge, das klingt schon alles sehr traurig.«

 

 

Ein wenig resigniert merke ich, dass ich heute keine tiefschürfenden Antworten bekommen werde. Die Jungs sind zu professionell — und so nett und harmlos wie ihre Musik.

 

 

Mal eine andere Frage. Das Drumherum um die Musik wurde von euch mal als Zirkus bezeichnet. Die Spex ist gerade gestorben, und ihr seid damals mit Youtube groß rausgekommen — wie erlebt ihr die Musikbranche?

 

Severin: Es geht gerade alles immer schneller und direkter. Weniger Leute kaufen sich ein Magazin und lesen einen Artikel, weil du so nah an den Bands dran sein kannst. Instragram-Storys zum Beispiel. Da entwickelt sich viel, was krasses Potential birgt. Wir haben von Anfang an Videos auf Youtube hochgeladen: eine krasse Chance im Gegensatz zu früher, als man noch Plakate drucken musste, um Leute zu erreichen. Das ist einerseits superschön, macht es in einigen Bereichen aber auch schwerer. Im Endeffekt ist der Musikkonsum auf Streaming-Plattformen zum Beispiel ein anderer. Da geht es darum, möglichst viel Output zu haben. Nur noch die wenigsten hören sich ein Album vom Anfang bis zum Ende an.

 

 

Er erzählt noch, dass dieses Jahr das erste war, in dem die Streamingeinnahmen über den Plattenverkäufen lagen. Es geht jetzt um den Wegfall von qualitativ hochwertiger Berichterstattung in Zeiten von Social Media und um die Herausforderung, die eigene Filterblase zu erweitern.

 

 

Christopher: Was verloren geht, sind Leute, die es gelernt haben, zu recherchieren. Man sieht ja gerade in der ganzen Welt wozu das führt. Zum Beispiel Brasilien: Das sind rechtsradikale Populisten, die es einfach schaffen, ultraviele Leute zu erreichen. Jair Bolsonaro haben so viele Menschen gewählt, weil seine Meinungen nicht hinterfragt werden mussten. Der muss einfach einmal twittern und erreicht damit genug.

 

 

Ihr ja eigentlich auch, denke ich. Da kann man fast melancholisch werden.