GOTT Die Homestory – Teil 2

Latte macchiato mit dem Heiligen Geist 

 

Die charismatische Vineyard-Bewegung feiert mit Poprock in Niehl

 

Der Beamer projiziert einen Countdown an die Wand. Gleich kommt der Heilige Geist in die ehemalige Sparkasse von Alt--Niehl. Die Leiterin des Gottesdienstes schließt die Augen, lächelt, bittet um den Heiligen Geist. Die etwa vierzig Gottesdienstbesucher breiten die Arme aus. Dann ist er da.

 

Die evangelikale Vineyard-Bewegung wächst, in mehr als 50 Ländern gründen sich Gemeinden. In Köln ist man im Norden gerade vom Gewerbegebiet nach Niehl gezogen. »Mitten in ein Veedel, zu den Menschen«, sagt Fülke Wagner, 34 Jahre alt und Gemeindeleiterin. Vineyard ist charismatisch, die Anhänger glauben, dass der Heilige Geist »Charismen«, also Gaben, verleihe. Dank ihnen kann man helfen und auch heilen, indem man für andere betet. Es läuft viel Musik, zwei Musiker spielen mit Keyboard und E-Gitarre Poprock. Die Texte sind »Worship«, Lobpreis und Anbetung — es geht um die Schönheit der Schöpfung und die Liebe zu Gott. Bei charismatischen Bewegungen kommt es vor, dass Menschen derart vom Heiligen Geist ergriffen werden, dass sie nicht nur in Zungen reden, sondern sich auch auf dem Boden wälzen. »Wildes Umfallen oder dass sich jemand auf dem Boden wälzt , das hab ich jetzt noch nicht erlebt«, sagt Wagner. Aber dass es Heilungen gebe, wenn man für andere bete — das schon. Doch solle man Menschen keine Heilung versprechen.  

 

Einmal habe ihr Gott während des Gebets eine Frau gezeigt, die sie nicht kannte, erzählt Wagner. Aber sie habe gemerkt, warum die Frau unglücklich war. Und diese Frau habe sie später in einem Café gesehen. »Ich habe dann gesagt: Entschuldigen Sie, ich möchte nicht übergriffig sein, aber ich habe heute Morgen erfahren, was Sie unglücklich macht. Darf ich für Sie beten?« Die Frau sei völlig überrascht gewesen. »Die fand das ziemlich spooky«, sagt Wagner. Aber sie habe sich Wagners Handynummer geben lassen und später angerufen und ihr erlaubt, für sie zu beten. 

 

»Wir lieben« lautet der Claim von Vineyard. Liebe ist auch das Thema von Wagners Predigt, die sie aus dem Stegreif hält. Ihre Sprache hat nichts Klerikales, sie sagt »mega« und »krass«, ohne dass es aufgesetzt klänge. Dann gibt es wieder Worship-Songs, währenddessen kann man die »Beter« ansprechen, auch Fülke Wagner. Sie hört den Menschen zu, betet dann für sie, während auf der Bühne weiter musiziert wird. Vineyard spricht unterschiedliche Menschen an. Junge Paare in den Zwanzigern, ältere Menschen, die allein kommen, Familien, Obdachlose. 

 

Wagner sagt, sie habe eigentlich ein Faible für die katho-lische Liturgie. Doch bei Vineyard gibt es keine liturgischen Gegenstände, alles wirkt alltäglich — wäre da nicht der Heilige Geist. »In der Trinität sitzt der ja sonst am Katzentisch«, sagt Wagner und lacht. Wagner, die bei einem freikirchlichen Institut im Fernstudium Theologie lernt, sagt, sie habe keine religiösen Berührungsängste. Mit der Kleiderkammer der katholischen Kirche in Niehl arbeite man zusammen. »Die sind direkt auf uns zugekommen, das fand ich super«, sagt Wagner. Sie stammt aus einem evangelikalen Elternhaus, aber das war ihr zu konservativ. Sie sei immer freiheitsliebend gewesen, sagt Wagner. »Ich bin zum Beispiel ziemlich tätowiert und war politisch immer links.« 

 

Das Reich Gottes sei angebrochen, aber noch nicht vollendet, sagt Wagner. In der ehemaligen Niehler Sparkasse gibt man sich alle Mühe, es weiter zu errichten. Die Gemeinde wächst. »Bleibt doch noch auf einen Kaffee hier!«, sagt die Gottesdienstleiterin zum Schluss. »Wer trinkt mit mir einen Latte macchiato?«

 

 

Taufe mit Eisbär

 


Die äthiopisch-orthodoxe Gemeinde in Longerich wächst 

 

Drei bis vier Stunden Gottesdienst! Eine katholische Messe ist nichts gegen das, was die äthiopisch-orthodoxe Gemein-de Sonntag für Sonntag in Longerich zelebriert. Das gilt auch für den Weihrauchanteil in der Luft, der hier, in der kleinen Sankt-Michaelskirche, kaum zu steigern sein dürfte. Während draußen das trübe Novemberwetter die Straßen leerfegt, geht es drinnen zur Sache. Die Luft ist warm, der Gesang ist laut. Gut achtzig Menschen knubbeln sich in den Bankreihen, links die Männer, rechts die Frauen. Alle haben sich mit weißen Tüchern umschlungen, auch die Kinder, die zwischen ihren Eltern hin und her laufen und durch runde Öffnungen in den Bankreihen kriechen. 

 

Vorn im Altarraum laufen drei Männer umher. Einer hält einen goldbestickten, roten Schirm über die Bibel, einer trägt ein Vortragekreuz, einer singt. Das ist Erzpriester Merawi Tebege, Dekan aller äthiopisch-orthodoxen Gemeinden in Deutschland seit rund 35 Jahren. »In Äthiopien braucht man fünf Geistliche, um einen Gottesdienst zu feiern. Hier müssen drei reichen«, sagt er. Die äthiopisch-orthodoxe Kirche ist eine der ältesten der Welt, und weil Äthiopien als einziges Land in Afrika nicht kolonisiert wurde, hat sich die Kirche ihre Eigenheiten bewahrt. Darauf sind die Anhänger sehr stolz. Fast der gesamte Gottesdienst wird gesungen, mal nur vom Priester, mal von der gesamten Gemeinde. Die meisten singen auswendig, obwohl alles auf Ge‘ez stattfindet, Altäthiopisch. »Manche verstehen das, manche nicht«, sagt Erzpriester Tebege.

 

Viele Traditionen sind den jüdischen ähnlich: Jungen werden im Alter von acht Tagen beschnitten, manche Familien feiern auch Sabbat. Ohne den Tabot, eine symbolische Nach-bildung der Bundeslade, die das Volk der Israeliten bei ihrer Wüstenwanderung mit sich trug, kann kein äthiopisch-ortho-doxer Gottesdienst gefeiert werden. Sehr wichtig ist auch das Fasten: Jeden Mittwoch und Freitag gibt es kein Fleisch, keine Eier und keine Milchprodukte, und bis mittags überhaupt nichts. »Ans Fasten halten sich alle, auch wenn sie sonst Sünder sind«, sagt Erzpriester Tebege und lacht. 

 

Weil die Gemeindemitglieder nicht nur aus Köln, sondern auch aus Wuppertal oder Aachen zum Gottesdienst anreisen, kommen die Gläubigen schon mal zu spät. Heute ist es ausgerechnet eine Familie, deren Baby zu Beginn getauft werden sollte. Statt eines weißen Tuchs trägt das Kind einen Eisbäranzug. Dann passiert die Taufe halt mittendrin, der Erzpriester holt den Wasserkocher, um das Taufwasser anzuwärmen, der Vater hält mit dem Smartphone drauf. Ein kurzer Schrei, schon ist das Baby in der Gemeinde aufgenommen.

 

 

Lamas in Nippes 

 

Zum Mantrasingen im Nyingma-Zentrum kommen sogar Katholiken

 

Padmasambhava guckt ein wenig verträumt, aber er ist ja auch erleuchtet. Der »Lotosgeborene« gilt als Gründer des tibetischen Buddhismus und wird auch hier im Nyingma-Zentrum in Nippes verehrt. Er bildet das Zentrum des Altars, um den sich an diesem Novemberabend acht Menschen im Halbkreis versammelt haben. Gleich beginnt das Mantrasingen bei Vollmond. Vor Padmasambhava stehen Trauben, Kekse und getrocknete Früchte in kleinen Schüsseln als Opfer-gaben. Als Thorsten Grothe, der einzige Mann im Raum, die Scheiben einer Zimbel aneinander schlägt, beginnt die Zeremonie. 

 

»Om Ah Hum, Vajra Guru Padma Siddhi Hum« singen alle im Raum, immer wieder, eine Dreiviertelstunde lang. Das Mantra sei ein Werkzeug für den Geist, sagt Thorsten Grothe später. Es helfe dabei, sich zu sammeln. Und es scheint auch bei Anfängern sofort zu funktionieren, zumin-dest wird das monotone Singen nicht langweilig. Der Klang füllt den Raum, bringt den Körper zum Vibrieren. Nur die Knie lassen einen irgendwann spüren, dass man hier schon eine ganze Weile auf dem Boden sitzt. Dann ertönt wieder die Zimbel, worauf eine halbe Stunde des stillen Verharrens folgt. Erst rauscht es noch in den Ohren, dann vernimmt man die Geräu-sche von der Straße, zuklappende Autotüren, Stimmengewirr. 

 

Nach der Zeremonie versammeln sich alle um einen Tisch und verspeisen die Opfergaben. Thorsten Grothe er-zählt, dass er als Gymnasiallehrer auch mit seinen Schülern häufig Meditationsübungen mache, »zum Runterkom-men«. »Viele im Westen haben ja verlernt, stillzusitzen«, sagt Dagmar Traub. Sie hat das Nyingma-Zentrum 1983 mitgegründet, damals noch in Münster. 2001 zogen die Nyingma--Buddhisten nach Köln, in ein Eckhaus an der Sie-bachstraße gleich gegenüber der evangelischen Kulturkirche. Im Erdgeschoss befindet sich der Mandala-Shop, in dem man unter anderem Yogamatten, Klangschalen und Pendel kaufen kann. Sie sei mit dem evangelischen Glauben aufgewachsen, erzählt Traub, aber der habe sie nie so berührt wie die Lehren der Nyingma-Tradition. Als junge Frau entdeckte sie den Buddhismus über Kum Nye, das tibetische Yoga. Sie ging in die USA, um es bei dem Lama Tarthang Tulku zu lernen. 

 

»Der Buddhismus ist eher ein Weg des Erkennens als des Glaubens. Ein Weg, sich zu entwickeln.« Man bete auch keine Gottheiten an, sondern wecke Aspekte des erleuchteten Geistes. Bis heute gibt es auch unter Anhängern einen Streit darüber, ob der Buddhismus überhaupt eine Religion sei. Gerade das aber gefällt den Menschen, die eben noch die Mantras gesungen haben. Fast alle kommen aus christlichen Elternhäusern, manche sind sogar noch Mitglied in der katho-lischen Kirche. Für sie ist das kein Widerspruch. Im vergangenen Winter war ein tibetischer Lama zu Besuch in Nippes, das war eine großes Event für die Kölner Buddhisten. »Er hat uns dabei geholfen, die Statuen im Tempel richtig anzuordnen. Das ist Chefsache«, sagt Dagmar Traub und lacht. 

 

 

Bonbons für Konvertierte 

 

Bei »Gescher LaMassoret« in Riehl kommen liberale Juden aus ganz NRW zusammen

 

Da ist die Sache mit dem Auto. »Orthodoxe Juden sagen, weil am Schabbat kein Feuer entfacht werden darf, ist es verboten, Auto zu fahren«, sagt Rafi Rothenberg. Er ist Vor-stand und Mitgründer der Jüdischen Liberalen Gemeinde in Riehl. »Aber es gibt auch das Gebot, in der Synagoge zusammenzukommen, und das ist doch wichtiger.« Den Unterschied zwischen liberal und orthodox erklärt Rothenberg so: »Wir dürfen unser Auto vor der Synagoge parken. Wenn man die orthodoxe Synagoge am Schabbat besucht, parkt man sein Auto zwei Straßen weiter.«

 

Aber es gibt noch mehr Unterschiede. In Riehl wird nicht nur auf Hebräisch, sondern auch auf Deutsch gebetet, Frauen und Männer sitzen beisammen, und eine Frau ist Rabbinerin. Rund 150 Mitglieder hat die Gemeinde — aus Deutschland, aber auch aus den USA, England, Frankreich und Ost-europa. »Das ist so vielfältig hier, wie das Judentum selbst«, sagt Rabbinerin Natalia Verzhbovska. Das Judentum bewahre die Vielfalt der Ansichten auf, die Interpretation der Texte gehöre immer dazu. »Zwei Juden, drei Meinungen«, sagt Verzhbovska und lacht.

 

Bis zum Terror der Nazis war das liberale Judentum die vorherrschende Strömung in Deutschland, es entstand als Reaktion auf die moderne Gesellschaft. Das Judentum habe sich immer anpassen müssen, sagt Rabbinerin Verzhbovska. »Nur so kann es auch bewahrt werden.« Gescher LaMassoret heißt die Kölner Gemeinde — Brücke zur Tradition. Auch die Gottesdienste wirken weniger streng als in der Orthodoxie. Heute ist die Synagoge in Riehl ganz gefüllt. Nach dem Ende des Schabbat wird an diesem Samstagnachmittag noch Chanukka, das jüdische Lichterfest, gefeiert, das acht Tage dauert. 

 

Höhepunkt der Liturgie ist die Tora-Lesung. Rabbinerin, Gemeindevorsteher und Vorbeter stehen um den Tisch mit der kostbaren Tora-Rolle. Während daraus gelesen wird, muss jemand die korrekte Aussprache prüfen, manchmal verbessert dann Rothenberg den Vorbeter, der auch mal zerknirscht guckt. Wenn die Tora-Rolle danach durch die Synagoge getragen wird, berühren die Gläubigen sie mit dem Gebetsbuch, dass sie dann an den Mund führen. Heute werden auch drei neue Gemeindemitglieder eingeführt, die Konvertierten werden anschließend freudig mit Schokobonbons beworfen, Kinder flitzen los, um sie einzusammeln. Später werden noch ein Theaterstück aufgeführt, die Chanukka-Kerzen angezündet und gesungen und zusammen gegessen. »Das Judentum ist auch Freude, trotz der Verfolgungen und der Shoa«, sagt Rafi Rothenberg.

 

 

Die App des Kalifen 

 

In der Niehler Bait-un-Nasr-Moschee beten seit 1985 die Ahmadiyya

 

Mahmood Malhi ist ein junger Imam. Mit seinen 29 Jahren betreut er bereits zehn Gemeinden in Köln und Um-land, sein Hauptsitz aber ist in Niehl. Dort eröffneten die Ahmadiyya Muslim Jamaat im Jahr 1985 eine Moschee an der Eichhornstraße gegenüber vom großen Rewe-Markt. Freitag mittags kommt hier Trubel auf, junge Männer stehen auf dem asphaltierten Vorhof mit dem kleinen Minarett und plaudern, ein Taxi fährt vor. Um viertel nach eins beginnt das Freitagsgebet, das wichtigste der Woche und religiöse Verpflichtung für alle muslimischen Männer.

 

Dabei gibt es viele Muslime, die den Ahmadiyya ab-sprechen, zum Islam dazuzugehören. Das gilt vor allem für das heutige Pakistan, wo die Gemeinschaft ihren Ursprung hat. Sie gelten dort als Ketzer. Im Punjab erklärte sich Hazrat Mirza Ghulam Ahmad 1889 zum Mahdi, also zum religiösen Führer und zur Wiederkunft von Jesus, Krishna und Buddha in einer Person, die Mohammed einst prophezeit hatte. »Alle anderen Muslime warten noch auf ihn, aber für uns ist er schon da«, sagt Mahmood Malhi und lächelt.   

 

Malhi ist kein Import-Imam, sondern stammt aus Mannheim. Er hat im hessischen Riedstadt am Ahmadiyya--eigenen Institut islamische Theologie studiert, und spricht Deutsch mit pfälzischer Färbung. »Unser heutiges Thema ist die Spende«, sagt er zu Beginn des Freitagsgebets. Etwa -fünfzig Männer sitzen vor ihm auf dem makellosen Per-serteppich, manche im Anzug, andere im Kapuzen-pullover. Die Frauen beten eine Etage tiefer, wo sie die Worte des Imam über Lautsprecher hören. »Schließe nicht deinen Geldbeutel, sonst wird auch Allah seine Segnungen von dir zurückhalten. Möge Allah Eure Familien und Vermögen segnen«, fährt er fort. Nach weiteren Appellen an die -Großzügigkeit und Nächstenliebe folgt die Ansprache noch mal auf Urdu.

 

In der Frauenmoschee steht eine Vitrine mit Pokalen, die Kinder und Jugendliche der Gemeinde bei Sport- und Wissenswettbewerben gewonnen haben. Bildung ist den Ahmadiyya sehr wichtig, vor allem auch die der Mädchen. Jedes Jahr überreicht der Kalif, das geistliche Oberhaupt, das in London im Exil lebt, den besten Studentinnen der Gemeinschaft eine Medaille. »In unserer Gemeinde machen mehr als 45 Prozent eines Jahrgangs Abitur oder Fachabitur«, sagt der Imam stolz. Den Ahmadiyya ist es wichtig, zu zeigen, dass sie sich als Teil der deutschen Gesellschaft verstehen. Wenn Islamisten irgendwo auf der Welt einen Anschlag verübt haben, gehen sie auf die Straße und protestieren. »Wir sind genauso mitbetroffen, wenn so etwas passiert«, sagt Shafkat Naz Khan, die bei der Gemeinde für den interreligiösen Dialog zuständig ist. Als Zeichen der Dankbarkeit und als Dienst an der Nachbarschaft räumen die Ahmadiyya zusammen mit der AWB am Neujahrstag ehrenamtlich den Silvestermüll von den Straßen. 

 

Nach einer guten halben Stunde ist das Freitagsgebet zu Ende. Manche Frauen stehen noch zusammen und unterhalten sich, andere wollen schnell nach Hause. Warum die Eile? »Jeden Tag um 14 Uhr hält der Kalif seine zentrale Ansprache. Die gucken sich viele zu Hause im Fernsehen an«, sagt Shafkat Naz Khan. »Aber wer es nicht rechtzeitig nach Hause schafft, kann die Rede mit der Ahmadiyya-App auch in der Bahn hören.« 

 

 

Der Atheist auf dem Weihnachtsmarkt

 

Tobias Stelmaszyk glaubt an nichts, außer an die Wissenschaft

 

Die Blaskapelle spielt »Süßer die Glocken nie klingen«.
Am Eigelstein hat ein Weihnachtsmarkt Quartier bezogen, Feuerwehrleute schmücken mit Kindern gerade den großen Christbaum. Ist das dem Atheisten unangenehm? »Ach so ...«, sagt Tobias Stelmaszyk und lacht. Daran habe er nicht gedacht, als er den Treffpunkt vorschlug, aber es stört ihn nicht. Im Café neben dem Weihnachtsmarkt reden wir darüber, was Stelmaszyk an Religion nicht passt.

 

»Ich glaube weder an den christlichen Gott noch an andere oder die Zahnfee«, sagt er. Womöglich gebe es »irgendetwas«, aber keinen personalen Gott. »In der Welt geht es mit rechten Dingen zu«, sagt er. »Wir brauchen keine Kobolde oder Götter, sondern Wissenschaft.« Und religiöse Gefühle? Kann man psychologisch oder biochemisch erklären, sagt Stelmaszyk.

 

Er habe früh gemerkt, dass da etwas nicht stimme, und aufbegehrt. Bei der Vorbereitung auf seine Konfirmation habe er gesagt: »Ich glaub‘ den ganzen Scheiß sowieso nicht, den wir hier erzählt bekommen.« Da durfte er gehen und habe sich befreit gefühlt.

 

Stelmaszyks Lehre ist heute der Evolutionäre Humanismus. In Deutschland hat Michael Schmidt-Salomon die Idee populär gemacht: Evolution und Darwin statt Gott. Tobias Stelmaszyk hat auch den »Gotteswahn« des Evolutionsbiologen Richard Dawkins gelesen. Der atheistische Bestseller war Stelmaszyks Offenbarung. Man brauche keine Religion, um ethisch zu handeln, sondern Vernunft. Religion müsse nicht verschwinden, aber sie muss Privatsache bleiben. »Doch der Staat zieht Kirchensteuer ein, finanziert theologische Fakultäten und delegiert die Er-ziehung an christliche Kitas.« Falsch sei es auch, Flüchtlinge aus muslimischen Ländern über ihre Religion inte-grieren zu wollen. 

 

Manchmal ist ein Atheist aber auch ein bisschen melancholisch. »Es wäre ja nicht schlecht, wenn es da oben jemanden gäbe, der auf uns alle aufpasst«, sagt der Atheist. »Aber was gut wäre, ist deshalb ja nicht wahr.«

 

Die Gespräche mit Christen seien meist unergiebig, und andere Menschen interessierten sich ohnehin nicht für Religion, sagt Stelmaszyk. Da stoße er mit Religonskritik oft offene Türen ein. Die meisten, die er treffe, seien atheistisch, ohne dass sie das thematisierten. Es würden auch immer mehr, sagt er. Insofern sei er optimistisch. Es ist gewissermaßen die Naherwartung eines ungläubigen Menschen.

 

Vom ersten Stock des Cafés blicken wir auf den Weihnachtsmarkt. »Oh, da gehen ja meine Frau und mein Sohn«, sagt Tobias Stelmaszyk verdutzt und lächelt -amüsiert. Ob er denn mit seiner Familie Weihnachten -feiere? Ja, schon, sagt der Atheist, aber es gehe für ihn nur deshalb, weil er es als »Fest der Familie« und nicht als christliches Fest begreife. Seinem vierjährigen Sohn hat er längst ein antireligiöses Kinderbuch von Schmidt--Salomon geschenkt. »Überall werden Kinder ja mit diesen Märchen infiltriert«, sagt er. Da müsse man dagegenhalten. Am Spielplatz seines Sohnes steht ein Wegkreuz. »Da hängt ein Zombie am Gruselfix und macht -Kindern angst«, so sieht Tobias das. »Das können Sie doch so -schreiben, oder?«