Ab- und Zustände

Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 205

Früher klemmte an Fahrrädern oft ein orangefarbener Abstandhalter am Gepäckträger. Das Ding hatte man sich einfach drangeschraubt, da wurde nicht groß drüber geredet. »Kein Thema«, wie man damals sagte. Heute ist er verschwunden, und ich möchte ihn zum Thema machen. Er ist nützlich und ein klares Bekenntnis für eine progressive Verkehrspolitik. Ein Abstandhalter ragt ausgeklappt von der linken Gepäckträgerstrebe auf die Fahrbahn und ermuntert Autofahrer, anstatt den Radfahrer umzufahren, ihn mit gebotenem Abstand zu überholen.

 

Der Abstandhalter sieht aus wie eine polizeiliche Winkerkelle. Das satte Orange gibt ihm zudem einen trendigen Anstrich. Ein Abstandhalter ist echt cool. Ich ahnte nicht, wie falsch ich lag und dass ich mich ins gesellschaftliche Abseits katapultierte, als ich ihn anbrachte. Den ersten Hinweis auf meine missliche Lage gab Gesine Stabroth, maßgeblich in allen Fragen eines zeitgenössischen Lebenswandels unter ästhetischen Gesichtspunkten. »Wie lächerlich ist das denn? Das ist voll uncool!« Solch pennälerhaften Formulierungen signalisieren stets, dass in Gesine Stabroth das blanke Entsetzen tobt und bereits das Sprachzentrum verwüstet hat. Ich sprach: »Der Abstandhalter zwingt den Autofahrer zur Vorsicht.« Hämisches Schweigen. »Außerdem ich finde auch die Farbe echt flott, ist es nicht living coral, die Trendfarbe für 2019?«. Ich wollte damit zusätzlich ästhetische Kompetenz unter Beweis zu stellen. »Nix living coral, das ist Müllabfuhr-Orange«, korrigierte mich Gesine Stabroth barsch und wurde handgreiflich. Sie drehte, ehe ich mich’s versah, den Abstandhalter im 45-Grad-Winkel nach oben und höhnte: »Praktisch! Auch für Flugzeuge!« Als Mann von Welt übersieht man geflissentlich die Launen einer Dame. Aber man muss viel ertragen können, wenn schon ein Abstandhalter zu solchen Ausfällen reizt.

 

Tatsächlich ist das Bekenntnis zum Abstandhalter in Theorie und Praxis eine sehr randständige Position. Überall sollen die Abstände verringert werden. Die Mauern gilt es einzureißen, die Gräben zu überbrücken. So stehen wir dann zu allem und jedem in »Beziehungen«. Eine Welt der kurzen Wege, die wir weiterspinnen zum gigantischen Netzwerk. Distanzierung kennen wir nur noch als Keiferei und Gezeter. Zustände sind das! Uns ist die Kunst der noblen Distanzierung abhandengekommen. Der Abstandhalter ist daher eine Provokation. 

 

»Papperlapapp«, sprach Gesine Stabroth. »Wie lange wollen wir hier eigentlich noch doof rumstehen? Wir müssen los!« Sie würde mit mir aber nur dann zu Tobse Bongartz’ Fete fahren (sie sagte »mitnehmen«), wenn ich »dieses alberne Dingsbums« abnähme. Ich montierte den Abstandhalter ab, es geht ganz einfach. Nur wenige Handgriffe sind vonnöten. Ich könnte den Abstandhalter Oma Porz schenken, überlegte ich, für ihren Rollator. Die jungen Leute drängeln oft so auf dem Bürgersteig. Der Straßenverkehr macht selbst die Fußgänger aggressiv. 

 

Wir fuhren los. Die Autos überholten äußerst knapp. Es war anstrengend; auch deshalb, weil mein Blick immer wieder magnetisch von Gesine Stabroths Fahrradlenker angezogen wurde. Der war mit Plastikblumen umwickelt. »Cool, ne?«, fragte Gesine Stabroth, ohne eine Antwort zu erwarten, und saß sehr stolz und zufrieden auf ihrem Hollandrad mit den aufgemalten Gänseblümchen.

 

Als wir bei Tobse Bongartz ankamen, überreichte ich den Abstandhalter Tobse Bongartz und sagte: »Danke für die Einladung — statt Blumen...« Tobse Bongartz war begeistert: »Wie cool ist das denn?! Voll retro.« Gesine Stabroth und ich gingen uns an diesem Abend aus dem Weg. Etwas Abstand zu halten, ist oft ganz gut.