Melancholie, zuckersüß

Auf den frühen Alben von Michael Rother ist eine eigentümliche Aura der Sehnsucht wiederzuentdecken

Vor ein paar Jahren, als es Twitter noch nicht gab, ein Insidertipp noch ein Insidertipp war und ein Gerücht durchaus etwas Verheißungsvolles sein konnte, hieß es, es gäbe eine Aufnahme von Kraftwerk, auf der klängen sie wie Black Sabbath. Ohne drolliges Ozzy-Pathos natürlich, dafür musikalisch sogar noch heftiger. Echt jetzt?

 

Nun, die Aufnahme existiert. Sogar in exzellenter Qualität: Es ist ein Live-Mitschnitt der Band, den 1971 Radio Bremen besorgt hat. Ralf Hütter hatte die Band kurzzeitig wegen irgendeiner Abschlussprüfung verlassen, und Florian Schneider, damals vornehmlich Querflötist, soll sich in ziemlich aggressiver, aufgeputschter Dauerstimmung befunden haben. Mit Klaus Dinger am Schlagzeuger und eben Michael Rother an der Gitarre spielten sie einige Auftritte zu dritt, so auch in Bremen. Sie gaben sich dort irrsinnig straff und präzisionsvernarrt — vielleicht schon ein Anti-Hippie-Programm —, gleichzeitig klingen die Stück runtergestimmt und sind bis zum Anschlag verzerrt. Klar, Dinger spielt sein »organisches Schlagzeug«, das heute von so vielen kopiert wird, und von Schneider stammen die Stücke, soweit bekannt. Aber es ist Rothers Gitarre, die dominiert, dickflüssige, schwarz-braune Klangmassen schichtet und die mit jeder weiteren Schichtung paradoxerweise immer klarer, immer präsenter klingt. Für wenige Wochen waren Kraftwerk de facto das Michael Rother Trio.

 

Rother wird nächstes Jahr 70, er wirkt jugendlich, ihn umgibt etwas Verträumtes. Seine Ausstrahlung auf der Bühne, auf Fotos und in Interviews ist freundlich, aber ganz unkompliziert wird er wohl nicht sein, wenn man an seinen legendären Dauerkrach mit seinem langjährigen Mitstreiter Dinger denkt oder daran, dass er über Jahrzehnte eigentlich nicht aufgetreten ist (mittlerweile tourt er häufiger, und die Konzerte sind richtig gut). Auch seine Musik ist freundlich, keine Dissonanzen, keine Übersteuerungen, ein ewiges Schwelgen im Wohlklang, der von unergründlicher Melancholie durchtränkt ist. Als würde Rother dieses Schwelgen nur vorführen, als wäre er bloß ein einsamer Betrachter all dieser himmelhoch getürmten Harmonien.

 

1971 — da gründete er mit Klaus Dinger Neu!, die Band, die längst zum Triumvirat des Krautrocks zählt (neben Can und Kraftwerk — und sinnigerweise würde keiner der Musiker das Krautrock-Label auch nur mit der Kneifzange anfassen!). Wüst ist die Musik, von Anfang an spannungsgeladen das Verhältnis zwischen Dinger und Rother. Mit Ach und Krach schaffen sie es, ihre Platten abzuliefern, zu Live-Auftritten kommt es kaum noch, aber trotzdem: Selten konnten offensichtlich so widersprüchliche, entgegengesetzte Charaktere ihre Spannungen in dermaßen euphorisierende Songflächen sublimieren. Bezeichnenderweise heißt Rothers andere Band in dieser Zeit Harmonia (mit den Cluster-Leuten Moebius und Roedelius). Seit 1977 nimmt er fast ausschließlich solo auf.

 

Rothers Meriten sind unbestritten, trotzdem verwundert es, wie heftig er in den letzten zehn Jahren kanonisiert wurde. An Neu! und Can, selbst an den frühen Kraftwerk fasziniert die Fähigkeit, widerstrebende Elemente zu einem einheitlichen Pop-Entwurf zu verschmelzen — dazu gehören nun mal Dissonanzen, die Härte von Proto-Punk, unvorhergesehene Brüche. Nichts davon in Rothers Soloarbeiten. Die besten werden im Februar neu veröffentlicht: »Flammende Herzen« (1977), »Sterntaler« (1978) und »Katzenmusik« (1979), die im Prinzip eine Trilogie bilden. Außerdem »Fernwärme« (1982), Rothers kühner Ausblick auf den Synthiepop der 80er Jahre, und einige Soundtracks und Remixe. Zur ihre Zeit waren das große Erfolge, allein von »Flammende Herzen« verkauften sich 150000 Stück kurz nach Veröffentlichung — aber wer hörte in den 90er und 00er Jahren eigentlich noch Rother?  

 

Heute wieder können sich viele daran nicht satthören. Das hat mit der spürbar inneren Distanz der Musik zu tun: Sie ist zwar eskapistische, die Stücke heißen »Karussell«, »Feuerland«, »Sterntaler« oder »Blauer Regen« — und klingen auch so! —, aber sie wird nicht eskapistisch gespielt. Es ist eine Haltung, die Rother vorführt, er ist nicht mir ihr identisch. Dazu ist das Handwerkliche zu präsent, mögen sie noch so leicht klingen, diese Songs hat sich jemand hart erarbeitet. Rothers Musik partizipiert noch an der Avantgarde der 60er und 70er Jahre, weil für ihn Klänge schlicht Material sind — und nicht etwa Repräsentanten von Gefühlen. Mit dieser Produktionsästhetik bedient er perfekt die Stimmung von jüngeren Pop-Szenen, die zwischen Retromanie, verkatertem Techno und Experimentierlust ihre Haltung noch suchen. 

 

Dass er auf seinen frühen Soloalben allein auf Jaki Liebezeit als musikalischen Partner setzt und ihn wundersam matt glänzende Rhythmen trommeln lässt, die sich nie in den Vordergrund drängen, passt ins Bild. Ihr innerer Zusammenhalt ist raffiniert, alles Angestrengte wird aber aus dieser Musik verbannt. Im Zentrum steht natürlich die Gitarre, die Rother als Klanggenerator einsetzt und, wenn er Melodien zitiert, als Speichermedium für Lagerfeuerromantik. Sie ist kein Medium mehr der rebellischen oder virtuosen Selbstverwirklichung.

 

Michael Rother strahlt die Aura eines Mannes aus, der zwar seit Jahrzehnten in der deutschen Provinz lebt — tatsächlich: im Weserbergland —, für den das aber eine Traumlandschaft ist, vergleichbar mit dem Mississippi-Delta oder den stillgelegten Fabrikhallen Detroits mit ihren Underground-Raves. Wer würde nicht gerne seine Sehnsüchte so eigenwillig verwirklichen wollen?

 

 

Tonträger: Michael Rother, »Solo« (6 LPs bzw. 5 CDs), erscheint am 22.2. auf Grönland (Rough Trade)