Musik zum Surfen

Eine Neueinspielung von Lou Reeds »Metal Machine Music« zeigt, was der Meister vielleicht selbst nicht über seine Komposition wusste

 

Es gibt, sagt Lou Reed, in Plattenverträgen, die heutzutage Musiker in Amerika unterschreiben, einen »Metal Machine Music«-Passus. Dieser verpflichtet den Künstler, auch zukünftig solche Musik zu machen, deretwegen er von der Plattenfirma unter Vertrag genommen wurde.

»Metal Machine Music« (MMM) wird vielleicht als größter Schock in die Popgeschichte eingehen: 1975 reichte Lou Reed ein Doppel-Album bei seiner Platten­firma ein, das ausschließlich aus manipulierten Gitarren-Feedbacks besteht. Über eine Stunde Lärm in allen Schattierungen. Man lässt ihn gewähren, Reed war schließlich ein Superstar. Gewiss, immer für einen Absturz gut, durchaus fähig, auch mal ein richtig mieses Album abzuliefern. Aber egal – Reed konnte Songs schreiben wie sonst niemand. Das Album sollte in der Klassik-Abteilung des Labels erscheinen, als zeitgenössische Komposition elektronischer Musik. Reed durchkreuzte aber das Projekt, indem er dem Album ein Rock-Cover verpasste und Linernotes schrieb, in denen er das Publikum beschimpfte und sich selbst erniedrigte: Wer das Album bis zur vierten Seite hört, ist dümmer als ich!

Drei Wochen nach Veröffentlichung zog die Firma das Album aus dem Verkehr, sie wurde von Remittenden nur so überhäuft. Reed sollte eigentlich sofort gefeuert werden, bekam aber noch eine Chance. Die er mit dem wun­derbaren Song-Album »Coney Island Baby« zu nutzen wusste. Weil es in den 80er Jahren einen Boom an Lärmmusik gab (»Industrial«), der auch in den 90ern zahlreiche Kinder zeugte, wurde MMM zu einem Klassiker, der in etlichen Bootleg-Versionen kursierte. 2000 schließlich spendierte die gleiche Plattenfirma, die Reed beinahe das Rückgrat gebrochen hätte, uns eine – von Reed remasterte – offizielle Version.

Eine Erfolgsgeschichte. Aber es bleibt die Frage: War das damals von Reed ernst gemeint? Ebenfalls 2000 kommt Reinhold Friedl auf eine Idee. Friedl ist Pia­nist, Komponist und Leiter des internationalen Zeitkratzer-Ensembles. Zeitkratzer spielt Neue Musik, die noch vor wenigen Jahren nicht als Neue Musik gegolten hätte, die aber in ihrer Radikalität dem großen Aufbruch der Neuen Musik in den 60er Jahren würdig folgt. Friedl realisiert mit seinem Ensemble also nicht Kompositionen von Stockhausen oder Cage, sondern solche von Merzbow, Lee Ranaldo (Sonic Youth), Marcus Schmickler oder Elliott Sharp. Die Idee, die Friedl hat, ist die: Wir spielen MMM erstmals live – und zwar in kammerorchestraler Besetzung. Mit Klavier, zwei Geigen, Cello, Bass, Akkordeon, Trompete, Tuba, Saxofon und Schlagwerk. Ist MMM wirklich das Manifest der Lärm-Musik oder nur ein Betriebsunfall des Rock’n’Roll? In der geglückten Übersetzung des Stückes auf einen anderen Klangkörper und auf Interpreten, die Lichtjahre von jeder Rock-Attitüde entfernt sind, erweist sich dessen Substanz. Friedl und seine Kollegen liegen richtig.

Reed hat MMM mit einer Bandmaschine, drei Gitarren und zwei Verstärkern aufgenommen – übrigens bei sich zu Hause! Er stimmte die Gitarren offen, lehnte sie gegen die Verstärker und ließ die Feedbacks aufjaulen. Treffen sich zwei Feedback-Schlaufen, ergeben sie durch Überlagerung und Verschmelzung eine dritte, diese dritte wirkt nun auf die zwei ersten zurück und so entsteht wieder eine. Und wieder und wieder. Zusätzlich spielte Reed einige Gitarrenmelodien, die er aber bis zur Unkenntlichkeit deformierte, ein, und das Ergebnis wurde abschließend durch Manipulationen der Bandgeschwindigkeit noch einmal verfremdet.

Reeds Tragik bestand darin, dass er durchaus nicht vorhatte, als Komponist zu reüssieren. Er ist und bleibt der Song­writer, das Rock’n’Roll-Animal. MMM sollte einfach die reine, von allen Formalia befreite Rock-Fantasie sein, die endgültige Freisetzung aller Energien, die in den Songs von Jimi Hendrix oder Velvet Underground aufgespeichert waren. Und dennoch ist MMM nicht einfach die Weiterentwicklung von Rock – es ist auch ein Werk des Verschlingens und der Zerstörung. Deshalb Reeds Gepöbel, sein Desinteresse, das Stück auch nur einmal aufzuführen: Er konnte zu diesem Monster, seinem Monster, keine konsistente Haltung finden.

Seit einigen Jahren hat Reed das Interesse an Rock-Alben verloren, er hat sich auf die Seite der »Hochkultur«, der TheaterProjekte, Lyrik-Vertonungen und Musik-Revuen (man denke an das »Berlin«-Projekt, mit dem er zur Zeit tourt) geschlagen. Da kam die Anfrage Riedls, MMM zu vertonen, gerade recht. Jetzt kann er sich vorbehaltlos zu dem Stück bekennen, das ihm selbst nicht geheuer war.

2002, das Jahr in dem Reed seinen Sechzigsten feierte, ging Zeitkratzer mit dem Stück auf Tour. Ausverkaufte Häuser, großes Staunen. Zeitkratzer inszenieren MMM wie ein Feuerwerk: Es zischt, kracht, orgelt, das Schlagwerk knallt trocken wie ein dicker Kracher. Das Ensemble produziert aber keinen Lärm, sondern ein wogendes Klangbad. Der gewaltige Sound übersetzt sich in eine große Welle, die sich wiederum aus zahllosen kleineren zusammensetzt. Man surft auf dieser Musik. Fünf Jahren haben die Live-Aufnahmen gebraucht, ehe sie veröffentlicht werden konnten (durften). Aber was sind fünf Jahre angesichts einer Musik, die auf Ewigkeit und Grenzenlosigkeit hinaus will.

Am Ende des Konzertes kommt Reed im schwarzen Lederanzug auf die Bühne, unterbricht das Orchester, schnappt sich seine Gitarre und lässt sie für drei einmalige Minuten brummen, knurren und heulen. Reed mag ein Riesenarschloch sein. Aber er kann’s nun mal.

Tonträger
Zeitkratzer/Lou Reed, »Metal ­Machine Music« live at Haus der Berliner Festspiele 17.3.2002, CD + DVD (darauf u.a. ein Interview von Diedrich Diederichsen mit L.R.), Asphodel/Alive, erscheint am 4.9. Lou Reed, »Metal Machine Music«, Remastered Version, Sony BMG, 2000