Die größtmögliche Erschütterung

Nuran David Calis widmet sich am Schauspiel Köln mit »Herero_Nama.

A History of Violence« Deutschlands erstem Genozid

Die Debatte um die Rückgabe geraubter Kulturgüter — ausgelöst von Frankreichs Präsident Macron, der jüngst 26 Kunstwerke in die einstige Kolonie Benin zurücksenden ließ — hat auch in Deutschland erneut die Frage nach dem Umgang mit dem eigenen kolonialen Erbe aufgeworfen. US-amerikanische Gerichte verhandeln zurzeit eine historische Begebenheit: den ersten deutschen Genozid, während der deutschen Kolonialzeit, 1904 bis 1908 an den Herero und Nama in Namibia. 80 000 Menschen wurden getötet. Der Regisseur Nuran David Calis spricht über ein verdrängtes Kapitel der deutschen Geschichte. 

 

 

Nuran, du hast dich schon einmal mit dem Thema Völkermord beschäftigt, in »Die 40 Tage des Musa Dagh«, mit dem Völkermord an den Armeniern. Warum hat Dich das Thema wieder interessiert?

 


Ich empfand es als einen blinden Fleck, dass nicht die Frage gestellt wird, warum findet eigentlich eine so massive Gegenbewegung aus dem afrikanischen Raum nach Europa statt? Da habe ich mich in die deutsche Kolonialgeschichte gegraben. Man kann natürlich auch nur das Ergebnis betrachten, dass heißt Menschen, die sich aus Verzweiflung auf Boote begeben und dann entweder auf dem Mittelmeer verrecken oder in seltsamen Aufnahmelagern vor sich hin tristen.

 

 

Das heißt, du hast dir das westliche Sündenregister vorgenommen?

 


Mir fiel auf, auch als einer der das Abitur gemacht hat, dass wir viel über den Nationalsozialismus gelernt haben, aber fast nichts dazu, was deutsche Kolonialgeschichte aufarbeitet. Über Generationen sind diese Zusammenhänge also nicht mehr sichtbar. Wir lesen heute von Flüchtlingsströmen, wissen aber kaum etwas von der Gegenströmung aus Europa, die vor 100 Jahren dort alles platt gemacht und ausgeraubt hat. Deswegen wollte ich meinen Finger in die Wunde legen: in den barbarischen Umgang der westlichen Welt mit dem Kontinent Afrika. 

 

 

Für die Recherche hast du unter anderem auch mit Experten, Herero und Nama, gesprochen, deren Vorfahren ab 1904 dem Genozid zum Opfer gefallen sind. Warum holst  Du zwei von ihnen, Israel Kaunatjike & Talita Uinuses, neben drei Schauspielern, auf die Bühne?

 


Der einzige Weg sich diesem Thema anzunähern, ist die größtmögliche Erschütterung. Es ist eine so signifikante Zäsur, was der eine dem anderen angetan hat. Was ich sichtbar machen möchte ist, dass sowohl Israel als auch Talita deutsche Vorfahren haben. Aber dafür muss man natürlich einen ästhetischen Rahmen finden, in dem wir die Schauspieler und die direkten Nachfahren gemeinsam auf die Bühne stellen. Sie werfen den Blick auf uns, das westliche Theater, und zwar so, dass wir aufgefordert werden in einen Dialog zu treten.

 

 

Wie willst du vermeiden, dass die beiden nicht nur als Opfer wahrgenommen werden, deren Biografien betroffen machen, aber der links-liberale Zuschauer beim Verlassen des Saals diese schnell wieder vergisst?

 


Man muss schon zeigen, wer hier eigentlich Mist gebaut hat. Den Herero und Nama wird an diesem Abend zugehört werden, ohne dass eine Gegenrede oder eine Relativierung stattfindet. Sie formulieren schlicht und einfach ihre Wünsche. In einem exponierten Raum wie Theater kann das zu einem größeren Diskurs führen, in dem unser Selbst-verständnis von deutscher Rechtsstaatlichkeit ein wenig ins Schwanken kommt. Das funktioniert über die Wucht dieser Biografien, die sichtbar werden. 

 

 

So ähnlich hast du bereits bei »Die Lücke«, dem Stück über das NSU-Nagelbombenattentat in der Keupstraße, gearbeitet.

 


Es findet wieder eine Befragung statt. Man tut nicht so, als ob alle allwissend sind, sondern ich will zeigen, wie sich eine Gesellschaft verrennen kann und ihre Denkmuster überprüfen muss. Das Ensemble steht für die westliche Gesellschaft mit seinem Wissen — und Unwissen. Das wird mit den Quellen, in Person eines Herero beziehungsweise einer Nama, konfrontiert. Das Grauen bestand ja darin, die »Wilden« zivilisieren zu wollen. Diese Haltung, dieses Narrativ des Kolonialismus, setzt sich bis heute fort, auch wenn wir es verdrängen.

 

 

Was ist dabei deine Rolle als Regisseur?

 


Wichtig ist, dass die Ästhetik, die diesen Konflikt intellektuell beschreibt, auf der Bühne einen Zusammenhang herstellt. Es soll die Nahtstelle zwischen Fiktion und Realität sichtbar gemacht werden. Das heißt, eine starke Ästhetik wird gepaart mit dokumentarischen Anteilen und in eine eigene Erzählung gepackt, was ebenso verstörend ist wie der Inhalt selbst. Manchmal ist der politische Kopf dem Regisseur im Weg, aber Reibung wird bewusst in Kauf genommen. Gerade bei dokumentarischen Sachen steht die Frage der Macht im Raum, die Spieler nicht in Rollen zu zwingen. Ich muss ihnen als Regisseur helfen, in die Rolle zu gehen, in der sie sich tatsächlich befinden.

 

 

Was sollte der Abend im besten Sinne bewegen?

 


Ich glaube, dass der Abend zu einer verstörenden Bestandsaufnahme des bundesrepublikanischen, des europäischen Verständnisses gegenüber dem Kontinent Afrika, dem Land Namibia führt. Man kommt sehr schnell zu den Fragen von Rassismus und warum Europa so die Diskussion über Afrika führt. Es gibt immer den Wunsch von Theatermachern, die Welt zu verändern. Das finde ich in Ordnung, so groß muss man denken. Aber, wenn wir erleben, dass an diesem Abend die Befragung funktioniert und Selbstgewissheiten ins Wanken geraten und zwar so, dass alle auf Augenhöhe, gleich mächtig sind, dann ist das ein wichtiger Indikator für das Gelingen der Regie. Dadurch entsteht Reibungsfläche,  im besten Fall wird der Theaterraum ein Gesellschaftsmodell, eine Utopie. 

 

»Herero_Nama — A History of Violence«, A+R: Nuran David Calis, 9. (UA), 15., 22., 27.3., Depot 2, 20 Uhr