Zeuge sein in Deutschland

Zwei Bücher und ein Film mit Dvd beleuchten das Leben und Werk von Thomas Harlan

 

Eine derartige Dichte an Ver­öffentlichungen und Ereignissen ist rar und wirkt von langer Hand vorbereitet. Im September erscheint endlich Thomas Harlans seit langem angekündigter »Geschichtenzyklus«, ein vielstimmi­ger Großer Gesang unter dem Titel »Die Stadt Ys«. Flankiert wird er von einem weiteren Buch, Jean-Pierre Stephans biografi­schem Gespräch »Thomas Harlan. Das Gesicht deines Fein­des. Ein deutsches Leben«. Im Kino startet das Dokumentar-Prosa-Traktat »Thomas Harlan. Wander­splitter« (2006) von Chris­toph Hübner und Gabriele Voss, das zeitgleich in einer erweiterten Edition auf DVD erscheint.

Dass Thomas Harlan erst so spät eine seinem Leben wie Schaffen halbwegs angemessene Aufmerksamkeit erfährt, ist erstaunlich, aber auch wieder nicht. Sicher, man wusste um ihn; er taucht auf in zwei Schlüsselromanen, Hans Habes edelpulpiger »Christoph und sein Vater« (1966) sowie Liane Dirks feinem Buch »Und die Liebe? frag ich sie« (1998). Aber die Unbedingtheit und Grausamkeit seines Denkens, seiner Kunst machte ihn wohl ­vielen suspekt. All das und seine Herkunft, die gleichzeitig Quell dieser Radikalität ist.
Thomas Christoph Harlan wird 1929 in Berlin als Sohn der Schauspielerin Hilde Körber und des Filmemachers Veit Harlan geboren – letzterer bekannt als ein Meister des deutschen Melodrams wie als Regisseur einiger der berüchtigsten Nazi-Filme, ­allen voran »Jud Süß« (1940). Harlan hat eine behütete Kindheit im Schoße der Nazi-Elite, Goebbels schenkt ihm eine nächtliche Geburtstagsfeier im Kaufhaus Wert­heim (da schon »arisiert«), während man sich daheim an den Filmen erfreut, die offiziell verboten sind. Beides gehört für ihn zu­sammen, in aller Schizophrenität
.
Mit der Zerschlagung Nazi-Deutschlands klären sich die Dinge für Harlan, Erkenntnis­prozesse kommen in Gang – während der Vater erstmal weiter Filme macht. Einen davon nach einem Drehbuch, dass er gemeinsam mit Thomas schreibt: »Verrat an Deutschland« (1954/55), damals ein Skandal, er galt als kommunistische Propaganda – noch mehr Schizophrenität. Thomas Harlan hat da schon sein ­Leben jenseits von Deutschland begonnen: 1948 wandert er nach Frankreich aus, später lebt er in Polen, Italien, der DDR, reist durch die UdSSR, Mittel- und Südamerika, Israel. In jenen Jahren entstehen erste Arbeiten für den Rundfunk, ein episches Gedicht, dann Theaterstücke, allen voran »Ich selbst und kein Engel. Chronik aus dem Warschauer Ghetto«, uraufgeführt 1958. Im folgenden Jahr wird er wegen einiger sich aus dem historischen Kontext des Stücks ergebenden Äußerungen von diversen bundesdeutschen Polit-Größen mit Nazi-Vergangenheit wegen Verleumdung verklagt. Danach beginnt er, in Polen zu recherchieren und Dokumente über die Judenvernichtung zu sammeln.

Nach einer Versöhnung mit dem Vater auf dessen Sterbebett, nach Jahren des Suchens, taucht Thomas Harlan 1977 als Filmemacher wieder auf: mit »Torre Bela«, einem Drama über die Landreform im Portugal nach der Nelkenrevolution. Drei weitere Filme folgten, darunter »Wundkanal. Hinrichtung für vier Stimmen« (1984): Täter-Clashs, RAF und NSDAP, Kurzschlüsse des Hasses, mit einem Nazi-Verbrecher in einer Hauptrolle – ein Meisterwerk des deutschen Kinos. Obwohl alle Filme heftig diskutiert werden, gelingt Harlan nie der Durchbruch als Filmemacher. Als Schriftsteller schon, 2000 mit seinem Romanerstling »Rosa«, dem letztes Jahr »Heldenfriedhof« folgte. Seit 2001 lebt Harlan, unheilbar krank, in einem Lungen­sanatorium mit Blick auf den Obersalzberg.

Das Drehmoment im Leben / Schaffen Harlans ist die Zeugenschaft: So wie er immer wieder Zeugnis ablegte über anderer Menschen Leiden und Vergehen, so nun in »Wandersplitter« und dem Buch »Das Gesicht deines Feindes« über sein eigenes Leben. Letzteres ist vom Gebrauchswert her eher eine klassische Biografie in Dialogform, wobei die Kluft zwischen Erzähltem und Verschwiegenem, Erinne­rungen und Dokumenten immer wieder betont wird. »Das Gesicht deines Feindes« lässt ahnen, dass Harlan ein gewaltiger Erzähler ist, »Wandersplitter« macht es offenbar und zum Ereignis. Ganz selten kann man im Kino geballte, entladungswillige Intelligenz mit einer solchen Wucht erfahren wie hier: Harlan erzählt, die Augen aufmerksam, hell, jedes Wort, jeder Einschub, jeder dramatische Bogen stimmt. Was er in den 96 Minuten des Films ausbreitet, an Gewissheiten und Fragen, Maximen und Hoffnungen aus seinem eigenen Leben heraus entwickelt, beständig bestrebt, neben sich selbst zu stehen, ist nicht weniger als eine Ethik, eine Haltung.
Ähnlich den »Splittern« funktionieren auch die Geschichten in »Die Stadt Ys«. Sie sind zu lesen als Marksteine in einem geistigen Raum zwischen den zwei Romanen sowie Harlans Leben – rhizomatische Gewebe, schierer Fluss, Skandal der Freiheit des Schreibens. Es sind ineinander verwobene Erzählungen, die manchmal auch wahr sein könnten. Fragmente, Überhänge, Transpositionen, in allem strebend zu Ich-loser Zeugenschaften. Wie jene Geschichte, die Harlan zu Beginn von »Wandersplitter« erzählt und die in »Die Stadt Ys« auftaucht (»Moskau, Montag, 17. Dezember 1953«): von einem Mann, der ihn eines Tages in Mos­kau von der Straße weg in seine Wohnung mitnimmt, um ihm einen Koffer voller deutscher Zeitungen zu zeigen, damit er sieht, dass er: da war.



Bücher:

Thomas Harlan: Die Stadt Ys.
Eichborn Berlin, Berlin 2007, 280 S.,
19.95 Euro, erhältlich ab 3.9.

Stephan, Jean-Pierre: Thomas Harlan.
Das Gesicht deines Feindes. Ein deutsches Leben. Eichborn Berlin, Berlin 2007, 240 S., 22.95 Euro, erhältlich ab 3.9.



Kino:

»Thomas Harlan. Wandersplitter«, BRD 2006/07, 96 min, Regie & Kamera: Christoph Hübner, Ton & Montage: Gabriele Voss,



Erzählung:

Thomas Harlan, Kölnpremiere (in Anwesenheit der Filmemacher) am 29.8. im Filmforum NRW / Museum Ludwig, Filmpallette ab 30.8.



Doppel-DVD:

»Thomas Harlan. Wander­-­s­plitter« (256 min, Film + 160 min. Material) erscheint am 30.8. bei edition filmmuseum